Wir befinden uns in einem Zimmer. Es ist groß, hell und luftig. Entlang einer
Seite dieses Raumes sind mehrere große Fenster. Der Ausblick reicht über ein
phantastisches Stadtbild von Minaretten, Tempeln und zusammengedrängten Straßen.
Jenseits fließt ein großer schlammiger Fluss.
An einem dieser Fenster steht eine Dame. Sie ist exquisit, der Mode dieser Tage
entsprechend angezogen und schaut auf jene entzückende Stadt. Wenn wir uns näher
zu ihr heran bewegen, können wir erkennen, dass sie noch nicht sehr alt ist,
vielleicht dreißig, vielleicht etwas mehr. Zweifellos nicht vierzig. Sie ist
eine Schönheit, mit all ihren Merkmalen. Was unsere Aufmerksamkeit anzieht, ist
ihre Taille. Diese ist nicht viel größer als 33 Zentimeter im Umfang. Man meint,
dass man sie mit den Händen umfassen kann, so klein ist sie! Die Dame seufzt,
und wendet sich vom Fenster ab. Sie geht zu einem erhöhten Stuhl, am anderen
Ende des Raumes. Sie macht sehr kleine Schritte und scheint eine Ewigkeit zu
brauchen, während sie anmutig über jenen brillanten Marmorfußboden gleitet.
Sie sitzt aufrecht im Stuhl. Sich zu beugen scheint unmöglich zu sein. Sie nimmt
eine Schreibfeder vom Schreibtisch. Sie taucht die Spitze in ein Tintenfass ein
und fährt anschließend fort zu schreiben.
Diese elegante Frau ist niemand anderes als Lady Smythe- Hetherington, ein
Mitglied einer der ältesten aus England stammenden Familien und Ehefrau von Sir
Andrew Smythe, dem Gouverneur Ihrer Majestät im Indischen Reich, dem führenden
Vertreter der Kaiserin.
Smythe ist ein bemerkenswerter Herr, der jüngste Gouverneur in der Geschichte
des Indischen Reiches, und ein Mann von bedeutendem Geist, Charme und
diplomatischer Fähigkeit. Seine Ehefrau ist nicht weniger erstaunlich. Eine
berühmte Schönheit unter Schönheiten, berühmt in den Herrschaftsgebieten Ihrer
Majestät für ihren ausgezeichneten Geschmack in Kleidungsstücken, tadelloser
Manieren und ihrer Fähigkeit als eine gute Gastgeberin.
Sie ist es, die den Gouverneur da hin brachte, wo er nun angelangt ist, so wird
jedenfalls geflüstert.
Solche Gerüchte sind natürlich skandalös. Obwohl es ohne Zweifel wahr ist, dass
sie niemals seiner Beförderung schadete, und es auch der Einfluss ihrer Familie
war, der ihn von Mumbai zum Sitz der Macht, nach Delhi, brachte.
Trotz des äußeren Wohlstandes sind es nicht immer nur schöne Tage gewesen für
unser einmal junge Heldin. Sie heiratete Andrew Smythe nicht aus Liebe, und es
wurde bald klar, dass er nicht ein besonders liebenswerter, oder sogar netter
Herr war. Trotz des Charmes bei Konferenzen und Feiern war er in seinem privaten
Leben ein Karrierebesessener, der wenig Interesse an seiner jungen und hübschen
Ehefrau hatte.
In der Tat war es ein merkwürdiger Ball gewesen. Es stellte sich schnell heraus,
dass jener Andrew Smythe, wie all die anderen Anwesenden beim La-Maison-des
Poupees- Ball, dort hauptsächlich aufgrund eines Korsettfetisches anwesend
waren. Er liebte eng geschnürte Damen und sehnte sich nach einer Ehefrau, die er
schnüren könnte, nur zu seiner Freude. Konsequenterweise, hatte sie sich niemals
von ihren fürchterlichen Korsetts lösen können, noch wurde ihre Absatzhöhe
reduziert oder die Schuhe weiter.
Der Reifrock war allerdings mit Zeit gegangen, ein Opfer der Änderung des
modernen Geschmacks. Doch die gegenwärtige Mode bedeutete keine geringere
Beschränkung.
Arabella war allerdings stets der Mode mehr oder weniger angetan. Trotz Allem
war sie aber dennoch glücklich.
Sie hatte noch regelmäßigen Briefkontakt zu Rebecca Ross, Tatiana Goncharova,
Emily Dickinson und Elizabeth Hartley vom La-Maison-des Poupees.
Alle vier hatten Männer bekommen, welche Fetischisten für eng geschnürte Taillen
waren. Keine hatte die Freiheit gefunden, nach der sie sich sehnten.
Tatiana war inzwischen Gräfin Serebryakovaya, eine Gesellschaftsdame in Sankt
Petersburg. Ihr Ehemann, von Korsetts besessen, hatte auch ein Faible für hohe
Absätze, und entsprechend ihren Briefen würde er ihr nicht erlauben Schuhe mit
Absätzen unter 20 Zentimetern zu tragen.
Arabella erschauderte bei den Gedanken. Das würde bedeuten, immer auf den
Zehenspitzen zu stehen. Spaziergänge wären fast eine Unmöglichkeit.
Konsequenterweise verließ sie sehr selten das Haus, außer zu Feiern.
Lady Ross, die nun natürlich Lady Machin hieß, und gegenwärtig im Heim ihres
Ehemannes in Nottinghamshire wohnte, war ebenfalls eine Gesellschaftsschönheit.
Lord Machin war wohlbekannt als ein Romeo, und sah selten seine Ehefrau. Er ließ
sie oft allein, während er häufig auf 'Geschäfts'-Reisen nach London oder Paris
ging.
Von allen Mädchen, war es Emily Dickinson vielleicht am besten ergangen. Sie
hatte einen widerlichen, älteren holländischen Bankier namens van den Ouden
geheiratet. Der verstarb aber in weniger als ein Jahr nach ihrer Heirat. Frau
Emily van den Ouden sackte einfach das Geld ein, und verschwand Richtung
Südfrankreich, wo sie die Freiheit genoss, die ihr so lange versagt wurde.
Außerdem soll sie die Geliebte eines Italienischen Herzogs sein, wenn es denn
stimmt.
Vielleicht die traurigste Erzählung von allen, ist die von der armen und
schüchternen Elizabeth Hartley. So wie sie beschaffen war, hätte sie einen
liebevollen, sich um sie kümmernden jungen Herrn gebraucht, der ihr Vertrauen
und Sicherheit geben würde, die sie so begehrte.
Leider, wie so oft der Fall in dieser grausamen Welt, empfing sie genau das
Gegenteil.
Ihr Ehemann, der Graf von Portland, brachte sie bald zu seinem Anwesen in
Cornwall, wo sie sich auf ein Leben in Elend einließ. Er plagte sie mit
Beschränkungen und dominierte seine arme Ehefrau wo immer es möglich war. Er
hielt sie nicht nur so eng wie möglich in einem Korsett eingeschnürt, er
maskiert sie auch noch weiterhin, wie es im La-Maison-des Poupees üblich gewesen
war. Während des Tages war sie mit einem Drahtseilsystem am Haus ‚gefesselt’,
sodass sie sich nur in einem Teil des Hauses bewegen konnte. Nachts wurde sie
geknebelt und gefesselt, während er es mit ihr trieb.
Zwar ist Elizabeths Los wahrlich ein trauriges, und wir müssen uns wahrlich bei
Gott bedanken, dass sie niemals jenem abscheulichen Mann Kinder gegeben hat, da
ihr Leben, ohne Zweifel, schrecklich genug war.
Nein, Arabella geht es nicht so schlecht. Sie lebt in Indien, welches sie gerne
hat. Sie hat, um ehrlich zu sein, wirklich eine Zuneigung für die Modewelt
entwickelt, zu der sie einmal gezwungener Maßen gekommen ist. Außerdem gibt das
Desinteresse ihres Ehemannes ihr viel Zeit, ihrem eigenen Leben nachzugehen, und
das La-Maison-des Poupees gab ihr die Werkzeuge und die Richtung vor, dies zu
tun.
Während jener zahllosen Nächte in dem russischen Internat, unfähig in ihrem Bett
zu schlafen, von ihrem Korsett und Monohandschuh gefoltert, hatte sie die
Fähigkeit für Romane, Erzählungen von Liebe, Rache, Abenteuer, Tieren und
Prinzessinnen entwickelt.
Jene Fähigkeit hat sie nie verlassen.
Was die wenigsten wissen ist, dass Lady Smythe-Hetherington, Ehefrau vom
Gouverneur und Dame der besseren Gesellschaft, auch Justine Lavok ist, berühmte
Verfasserin auf dem Gebiet der Geschichten für Kinder und Jugendliche, weit über
dem englischsprachigen Raum hinaus, in der ganzen Welt.
Und das ist, was sie jetzt tut. Sie schreibt an der neuesten Serie, über die
Heldentaten von Arthur, dem abenteuerlichen Igel.
Leider leidet Arabella, Gouvernante, modische Dame und ehemalige Justine-Puppe an etwas, das uns Schriftsteller immer wieder plagt: Ein ernster Fall von Schreibblockade.
Sie seufzt, nur so viel wie ihre Einschränkung es zulässt, steht auf und geht
noch mal zum Fenster hinüber. Sie schaut auf die zusammengedrängten Straßen von
Delhi hinaus und denkt an ihrer Kindheit. Eine Kindheit der Freiheit, als sie
jene engen Straßen durchstreifte und mit unzähligen Hausierern, Pilgern und
Händlern redete. Aber leider ist ihr jene Freiheit genommen worden und wird
niemals zurückkommen. Tränen laufen langsam über ihre gepuderten Wangen, das
makellose Make-up verschmierend.
Unsere Heldin nimmt ein seidiges Taschentuch heraus und wischt jene Tränen ab.
Sie entfernt sich von dem Fenster und wendet sich der Welt von Arthur dem Igel
zu.