Auf der Fahrt zur Sankt Hildifryth, Tadmarshs Gemeindekirche schaukelte und hüpfte die Kutsche so stark, dass Kristin fast Panik bekam. Sie empfand es als ungerecht, denn die wichtigsten Momente waren jene, wo ihre Korsetts auf Engste geschnürt waren. Jene Momente waren ebenso die stressigsten Stunden. Das bedeutete wiederum, dass die Gefahr ohnmächtig zu werden in jenen Momenten sehr groß war. Die schaukelnde Kutsche und die Anstrengung gerade stehen zu bleiben brachte sie völlig durcheinander. Bald wusste sie nicht mehr wo oben und unten war. Kristin war sich auch nicht mehr sicher ob sie überhaupt noch gehen könnte, oder aus der Kutsche herauskäme. Kristin versuchte sich abzulenken. Bald würde sie Arm in Arm mit ihrer Mutter die Kirche betreten... Ihren Vater, die Eltern waren geschieden, hatte sie nicht ausfindig machen können...
Mit einem fürchterlichen Ruck hielt die Kutsche an. Kristin keuchte vor
Schreck.
„Wir sind da, Madame“, sagte der Kutscher und schaute vorsichtig durch das
Fenster hinein.
„Wollen sie, dass ich ihnen hinaus helfe?“
Kristin war nicht in der Fassung um zu antworten.
„Ich denke das wäre das Beste“, sagte ihre Mutter.
Der Kutscher nickte, verschwand vom Fenster und öffnete sofort die Tür. Er
klappte den Tritt herunter. Nicky und Kristins Mutter führten sanft die wie
betäubt wirkende Braut zur Tür. Dann hielten sie Kristin an den Armen fest,
während der Kutscher sie aus der Kutsche heraus hob und vorsichtig auf den Boden
stellte.
„Ich glaube, es ist besser wenn eine von ihnen auf der anderen Seite aussteigt
und ihr hilft“, sagte er. „Wir brauchen jemand der die Schleppe herausholt.“
„Das ist deine Aufgabe, Miss“, sagte Frau Campbell.
Nicky sah ganz aufgeregt aus. Sie öffnete die andere Tür und krabbelte hinaus.
Dabei raffte sie den langen Rock ziemlich unordentlich zusammen, schaffte es
aber ohne darauf zu treten aus der Kutsche auszusteigen. Sie beeilte sich um den
Wagen herumzulaufen und stand rasch neben Kristin. Sie nahm die Brautschleppe
und zog das lange Teil aus der Kutsche heraus, sodass es auf dem steinernen
Vorplatz der Kirche zu liegen kam.
„Sei bitte sorgfältig!“, ermahnte sie Frau Campbell. „Hast du eine Ahnung, wie
teuer das ist?“
„Nein, und sie auch nicht“, antwortete Nicky und zerrte weiter an der Schleppe.
„Ich weiß verdammt gut dass sie für das Kleid und die Schleppe nicht einen Penny
bezahlt hat. So!“ Die Schleppe war endlich aus der Kutsche herausgezogen und
Nicky musste erst mal tief durchatmen. „Was jetzt?“
„Ziehe die Schleppe glatt, und lege sie ordentlich hin. Wir wollen doch nicht
dass sich Falten bilden.“
Nicky tat ihr Bestes. Hin und wieder stellte sie sich gerade hin und legte eine
Hand mit einem schmerzerfüllten Ausdruck an die Taille. Das ungewohnte steife
und enge Oberteil fing an zu drücken. Doch schließlich lag die Schleppe schön
glatt nach links, weg von den Pferden, auf dem sauberen Vorplatz. Nicky nahm das
Ende der Schleppe in die Hand und wartete darauf dass Kristin endlich losgehen
würde. Doch das tat sie nicht. Sie stand leicht schwankend da und starrte in die
Leere.
„Helfen sie mir herunter“, sagte Kristins Mutter, und der Kutscher beeilte sich
ihr seine Hand zu geben. Kristin schien nichts mitzubekommen.
„Pass auf, Mädchen! Sie droht umzufallen!“
Nicky stürzte herbei und hielt Kristin fest, während Frau Campbell die Kutsche
verließ.
„Was jetzt“, sagte sie. „Sie kann nicht ohnmächtig sein, sonst wäre sie
umgefallen.“
„Vielleicht ist das Korsetts so steif, dass sie nicht fallen kann“, meinte
Nicky.
„Sei nicht albern. Hilf mir lieber. Krissie? Krissie, Liebling, bist du wach?“
Sie wedelte mit einer Hand vor Kristins Augen herum. Für einen Moment starrte
ihre Tochter mit leerem Blick geradeaus. Dann regte sich etwas in ihr, und ihre
Augen begannen der Bewegung zu folgen. Schließlich schaute sie ihre Mutter an.
„Kristin, kannst du mich hören?“
„Ja, Mama“, sagte die Braut leise. Ihre Brüste bewegten sich sehr schnell auf
und nieder in dem engen Seidenkleid.
„Jetzt schau mich nicht so merkwürdig an. Bist du wirklich sicher, dass du
weitermachen kannst? Du kannst immer noch umkehren.“
Oh! Das war so verlockend! Gedankenfetzen, Visionen schossen durch ihren Kopf.
Sie wünschte sich dass sie niemals versucht hätte dieses Kleid zu tragen, dass
sie niemals die Kisten mit der Aussteuer gefunden hätte, dass sie niemals in das
Landhaus... Sie schüttelte leicht ihren Kopf um sich von diesen Gedanken zu
befreien. Dieses Kleid war ein Sonderfall. Die Aussteuer hatte ihr Leben
verändert, ohne Zweifel zum Guten. Evangeline hatte die Kleidungsstücke für sie
liegengelassen, und dafür schuldete sie was dem Gespenst. Sie musste ihr Bestes
geben um den Fluch vom unmöglichen Hochzeitkorsett samt Kleid zu überwinden.
Nein, sie wollte nicht aufgeben. „Ich bin bereit, Mama.“ Ihre Stimme war zwar
noch leise, aber sie klang entschlossen.
„Tapferes Mädchen. Also dann, Miss, äh, Nicky, nimm die Schleppe, und ich nehme
deinen Arm, meine Tochter. So ist es gut. Oh! Man hat unsere Ankunft bemerkt!
Ich höre den Hochzeitsmarsch. Das ist sehr aufmerksam. Denke immer daran,
Kristin, du bist die schönste Braut, die man jemals gesehen hat. Und wenn dir
das keine Kraft gibt, dann ist dir nicht zu helfen.“
Ebenso stolz wie ihre Tochter, allerdings mit einer weniger beeindruckenden
Figur, führte sie Kristin in die Kirche hinein.
Kristin war dankbar dass ihre Mutter ihr den Arm anbot. So konnte sie sich daran
festhalten als sie langsam durch das Kirchenschiff gingen. Kristin versuchte so
elegant und verführerisch zu gehen wie sie es gelernt hatte. Ihr Rock rauschte
entsprechend stark. Sie fühlte sehr genau wie die viel zu enge Kleidung
versuchte ihr die Luft zu nehmen, und sie wusste nur zu gut dass sie dem
Gespenst eine Chance geben musste sie so in der kalten Kirche sehen zu können.
Die größte Katastrophe würde eintreten wenn sie ohnmächtig werden würde.
Entgegen der Anordnung, welche sie Nicky gegeben hatte, würde man ihr Korsett
aufschnüren. Das wiederum würde das Ende der Hochzeit bedeuten, denn man
brauchte Stunden um in das Hochzeitskorsett und Evangelines Brautkleid geschnürt
zu werden. Sie musste also die kirchliche Trauung unbeschadet überstehen.
Kristin zwang sich zu konzentrieren. So schaute sie nur geradeaus zum Altar, wo
Bruce, sein Trauzeuge und der Pfarrer von Sankt Hildifryth standen. Sie warteten
auf die Hauptperson und schauten ihr gebannt zu, wie sie langsam näher kam.
Kristin wusste dass eine Hochzeit mindestens dreißig Minuten dauern würde, wenn
man die Trauung würdevoll vollzog. Außerdem wusste sie dass hinterher Fotos
gemacht werden würden, bevor sie in den Wagen fliehen konnte, wo sie dann
hoffentlich schnell aufgeschnürt werden würde. Kristin wusste wirklich nicht wie
sie das überleben sollte. Aber aufgeben kam nicht in den Sinn. Um Evangelines
Seele zu retten musste sie es auf jeden Fall durchstehen. Jedes Mal wenn sie
leicht schwankte, erinnerte sie sich an die schreckliche Szene, die sie in dem
hinteren Schlafzimmer miterlebt hatte. Evangeline war hart geschnürt worden um
dennoch zu verzweifeln. Doch für Kristin war es anders als für das Mädchen,
dessen Korsett sie trug. Sie hatte nicht den gleichen psychischen Druck wie
Evangeline.
Schließlich waren sie vor dem Altar angelangt und blieben stehen. Das luxuriöse
Rascheln und Rauschen verstummte. Als der Pfarrer mit den Worten „Sehr verehrtes
Brautpaar...“ begann, sah sie wie Bruces anfängliches Lächeln in einen
verblüfften Gesichtsausdruck verwandelte. Er neigte sich nach vorne und
verrenkte den Hals Richtung Trauzeuge.
„Was hast du?“, flüsterte Kristin.
„Ich dachte... ich dachte da wäre jemand“, flüsterte Bruce zurück.
Jemand war da? Kristin wusste nicht was er meinte. Dann hörte sie ein leises
Rascheln und schaute, so weit es ihr steifer Kragen zuließ, in die Richtung des
Geräuschs. Sie konnte soeben eine Bewegung erkennen, eine weiße Figur, die den
Platz an der anderen Seite von Bruce einnahm. Als Kristin aber genauer
hinschaute, war da niemand. Als sie aber wieder nach vorne schaute, sah sie im
Augenwinkel wieder diese Erscheinung. Kristin hatte das Gefühl auf einer
Doppelhochzeit zu sein, und die andere Braut stand zu ihrer rechten Seite...
‚Ich weiß wer sie ist!’, dachte sie jubelnd. ‚Es funktioniert! Endlich trägt sie
ihr Hochzeitskleid und ist bei mir! Ich muss einfach nur bis zum Ende der
Zeremonie durchhalten, und wenn ich das schaffe, dann ist sie ebenfalls...’
Kristin war in ihrem Leben schon auf vielen Hochzeiten gewesen, aber keine
war ihr so lange vorgekommen wie ihre eigene Trauung. Während des ersten Teils
des Trauungsgottesdienstes hatte sie nichts zu tun als dem Pfarrer zuzuhören.
Ihre Konzentration ließ nach und in Gedanken begann sie ihren Körper zu
erforschen. Überall tat es weh oder drückte, angefangen von der schweren Frisur
welche ihre Kopfhaut spannte bis hin zu den Zehenspitzen, welche in die schmalen
und hochhackigen Schuhe gepresst wurden. Letztendlich konzentrierte sich aber
alles auf den unerträglichen Druck des unmöglichen Korsetts. Sie sagte sich dass
sie es niemals hätte machen sollen. Gleichzeitig kam ihr in den Sinn was die
arme Evangeline erlitten hatte. Aber dann kam sie zu dem Schluss, dass egal wie
schlimm es für ihr war, sie würde nicht daran sterben wie das Gespenst. Da kam
ein merkwürdiger Gedanke in ihr hoch. Kristin fragte sich, ob das Gespenst
gerade die gleichen Gefühle hätte wie sie. Sie wagte einen heimlichen Blick auf
die kaum zu erkennende weiße Person. So kam es, dass Kristin wieder bei der
Sache war, nur um festzustellen, dass erst eine Minute vergangen war. Je länger
die Messe andauerte, desto sicherer war sie sich, dass sie bald ohnmächtig
werden würde... Da erinnerte sich Kristin an die Verse der damaligen Zofe Nancy
Chiddom. Allerdings fiel ihr nur eine ein. Doch es war besser als nichts. Sie
begann sich darauf zu konzentrieren und murmelte sie vor sich hin. Bruce, ihre
Mutter, Nicky und sogar der Pfarrer hörten es und schauten sie überrascht an,
aber Kristin war zu sehr darauf konzentriert, sodass sie nichts mitbekam. Sogar
als Bruce sein Eheversprechen sagte, bekam sie nichts davon mit, denn sie war
immer noch zu stark darauf konzentriert nicht ohnmächtig zu werden.
„Und jetzt sprechen sie mir nach“, sagte der Pfarrer mit lauter Stimme, da er
bemerkt hatte dass die Braut geistig abwesend war. „Ich, Kristin Laetitia
Marie...“
Stattdessen sagte Kristin leise: „…ich bin wach, mein Korsett ist straff, ich
muss nicht ohnmächtig werden heut Nacht, ich bin wach...“
„Psst! Kristin!“ Eine Hand schüttelte ihre in dem engen Handschuh steckenden
Arm. Kristin blickte erstaunt hoch. Bruce neigte sich vor und schaute sie an. Er
deutete mit seinen Daumen zum leicht verwirrten Pfarrer.
„Oh!“, flüsterte sie und lächelte unschuldig. Mit lautester Stimme, was aber
nicht wirklich laut war, denn das Korsett nahm ihr fast den ganzen Atem, fing
sie an: „Ich, Kristin Laetitia Marie...“ Nun kam der entscheidende Moment. Das
Blut hämmerte in ihren Ohren sodass sie kaum den Pfarrer hören konnte. Rote
Sterne tanzten vor ihren Augen, sodass sie kaum noch den Pfarrer erkennen
konnte. Sie war gefährlich nahe daran nichts mehr mitzubekommen und alles zu
verpatzen. Langsam verlor sie die Orientierung. Mit letzter Kraft schaffte sie
es dennoch die richtigen Antworten zum richtigen Zeitpunkt zu geben. Und das
sogar in einer Lautstärker, welche für alle Beteiligten hörbar waren. Auf dem
Höhepunkt der Trauung starrte sie auf ihre fast unbewegliche Hand, als Bruce den
Ehering über den wie eine zweite Haut anliegenden Handschuh streifte. Dann sagte
der Pfarrer: „Sie dürfen jetzt die Braut küssen.“
Und das taten sie!
Die meiste Gäste der Trauzeremonie interpretierte die Tränen als Ausbruch
einer romantischen Freude. Ihre Mutter dachte dagegen dass es Tränen der
Schmerzen wären, wegen des fürchterlichen Korsetts. Nur Kristin allein wusste
die Wahrheit. Als sie Bruce küsste, sah sie über seiner Schulter ein anderes
Ehepaar neben ihnen. Eine Bräutigam in einem grauen Frack und eine Braut, welche
ein exquisites Edwardianisches Kleid trug, das identisch mit ihrem eigenen
Brautkleid war. Auch sie küssten sich. Und als sich Kristin mit pochendem Herz
von Bruce Lippen trennte, sah sie Evangeline, welche mit ihrem Ehemann davon
schritt. Sie lächelte Kristin geheimnisvoll an und schritt unsicher schwankend,
aber triumphierend davon. Kristin wusste dass der Fluch von ihr gegangen war.
Sie hatte getan was sie tun musste, und sie weinte vor Erleichterung. Das Bild
des Edwardianischen Ehepaares verschwamm unter ihren Tränen. Bruce reichte
Kristin sein Taschentuch und sie tupfte damit ihre Augen trocken. Als sie wieder
klar sehen konnte, waren Evangeline und ihr Ehemann nicht mehr zu sehen.
Es erklang der Hochzeitsmarsch von Lohengrin, oder das, was so ähnlich klang,
denn in einer ländlichen Kirche konnte man nichts Besseres erwarten. Es war Zeit
die Kirche voller Stolz und hoch erfreut zu verlassen.
Natürlich war Kristin noch nicht erlöst. Es folgte der Brauch, den Evangeline
nicht hätte erdulden müssen, auf den aber jede moderne Braut großen Wert legte:
Das Hochzeitfoto.
Unzählige Bilder von ihr und Bruce. Nebeneinander stehend, oder sich mit
strahlenden Gesichtern ansehend, oder, oder... Und alles mit einem Körper, der
still vor sich hin leidend nach Erlösung schrie, der aus dem Gefängnis aus
Stahlstäben und sehr engen Stoffen ausbrechen wollte. Kristin konnte mit einem
Male alles viel besser ertragen und ignorierte einfach das unglaublich enge
Korsett, die schwere und beengende Kleidung. Ihr schien es kaum noch was
auszumachen darunter leiden zu müssen. Eine große Last war von ihr gegangen. Der
psychische Druck, sogar etwas vom physischen Druck war einfach weg. Ihr Leben
schien viel freier, schöner geworden zu sein.
„Weißt du“, sagte sie zu Bruce, als sie sich für ein weiteres Bild anlächelten,
„dass ich während der ganzen Hochzeitszeremonie in der Kirche kurz vor einer
Ohnmacht war?“
„Das weiß ich!“, sagte Bruce. „Ich habe dich immer wieder schwanken gesehen. Ich
dachte dass ich dich jeden Moment auffangen müsste.“
„Schön. Jetzt brauchst du dir keine Sorgen mehr um mich machen“, sagte Kristin
und lachte atemlos. „Jetzt ist es nicht mehr wichtig ob ich ohnmächtig werde,
und außerdem will ich es auch nicht!“
Sie drehte sich zum Fotografen um, doch er war nicht da. Alles war schwarz. Die
Unterhaltungen der Gäste und das Klicken der Fotoapparate hörten sich an, als
wenn die Geräusche von weit entfernt zu ihr drangen. Kristin konnte nicht mehr
ihre Arme und Beine fühlen. Sie schien zu schweben. Dann verschwand alles.
Sie wachte mit einem scharfen Gestank in ihrer Nase auf, hustete und
schnappte nach Luft. Dann öffnete sie ihre Augen. Bruce hielt sie in seinen
Armen fest, damit sie nicht umfallen würde. In seiner Hand hielt es etwas,
offensichtlich eine Riechflasche, und nahm sie von Kristins Nase weg. „Ruhig,
atme gleichmäßig. Wenn du so stark hustest platzen noch wohlmöglich die Nähte!
Geht es dir wieder gut, mein süßer Engel?“
„Ich denke schon... Ja! Nimm das scheußliche Zeug weg!“ Sie schob das
Riechfläschchen weg, und Bruce schloss den Deckel. Danach steckte er es wieder
in seine Tasche.
„Ich bin froh, dass es wirkt“, sagte er. „Glaubst du dass du wieder auf deinen
eigenen Beinen stehen kannst? Dieses Kleid verdoppelt dein Gewicht.“
„Ich weiß, mein Schatz. Ich bin schließlich diejenige, die es den ganzen Tag
tragen muss.“ Sie seufzte leicht. „Ja, ich kann wieder alleine stehen. Richte
mich auf und dann lass mich bitte los. Sag mal“, fügte sie hinzu, als Bruce ihr
half wieder gerade zu stehen, „hast du das Riechsalz den ganzen Tag bei dir
gehabt?“
„Ich dachte, es könnte vielleicht nützlich sein. Ich wollte dir aber nichts
davon sagen, denn ich wollte nicht dein Selbstvertrauen schwächen. Ich wollte
nicht dass du von mir den Anschein bekommst, ich würde dein Vorhaben anzweifeln.
Das war nur für den Notfall gedacht.“
„Und? Hast du an mich geglaubt?“
„Tja, das ist jetzt doch nicht mehr wichtig, oder?“
„Ich denke nicht. Wo hast du denn überhaupt die Flasche mit dem Riechsalz her?
Ich glaube nicht, dass man so etwas heutzutage kaufen kann, nicht einmal bei
Harrod’s!“
„Ich habe es nicht gekauft, ich fand es. Es lag in der Kiste deiner Freundin
Evangeline.“
Kristin zitterte ein wenig, da er Evangeline als ihre Freundin bezeichnet hatte.
Aber für ihn war sie mehr eine imaginäre Person, denn er wusste ja fast nichts
über sie.
„Sie musste eine Flasche besessen haben. Ich kam darauf, als ich im Internet
nach Korsetts forschte. Der Hinweis war jedenfalls Goldwert.“
„Ja, aber ich denke dass wir es nicht wieder benötigen. Ich habe nicht vor mich
wieder bis kurz vor einer Ohnmacht zu schnüren. Das war eine besondere
Gelegenheit.“
Schließlich waren alle Fotos ‚im Kasten’, und es war Zeit zur Kutsche zu gehen.
Diesmal halfen ihr Bruce und Nicky gemeinsam. Und obwohl das Korsett viel zu
lang, viel zu steif und viel zu eng war, und der enge Rock ihre Beinfreiheit
viel zu stark einschränkte, machte ihr das alles fast nichts mehr aus.
Sie stand im Wagen und winkte den Hochzeitsgästen zu, bis Bruce neben ihr in der
Kutsche stand. Der Kutscher schloss die Tür, und Kristin bat Bruce die Vorhänge
zu schließen. „Ich benötige deine Hilfe, Liebling. Bitte lockere das Korsett,
und beeile dich!“
Er öffnete das Hochzeitskorsett. Bruce musste vorsichtig sein, denn es waren
sehr viele und ziemlich kleine Knöpfe. Außerdem lag das Kleid so eng an, dass er
nicht an dem Stoff ziehen konnte, ohne es zu beschädigen. Als das Kleid geöffnet
war, lockerte er die beiden seitlichen Schnürungen, die ‚Figurregler’. Das gab
Kristin soviel Bewegungsfreiheit, dass sie sich sogar hinsetzen konnte. Der
sorgfältig über ihren Schultern drapierte Schleier verdeckte die Öffnung auf
ihrem Rücken. Kristin ließ von Bruce wieder die Vorhänge aufziehen, damit man
sie wieder sehen konnte. Kurz darauf fragte der Kutscher um Erlaubnis losfahren
zu dürfen. Die Erlaubnis wurde von der Braut gnädig erteilt, und die Fahrt
begann.
Als sie die Kreuzung mit der breiten Straße zur Großstadt erreichten, hielt der Kutscher plötzlich an. Das Brautpaar hörte wie die Pferde scheuten. Dann wurde es zunächst ganz still. Ein Geräusch war zu hören, wurde immer lauter. Hufschläge und polternde Kutschenräder waren zu hören. Bruce und Kristin schauten aus dem Fenster hinaus. Eine Kutsche kam näher, eine Hochzeitskutsche. Die Kutsche sah fast so aus wie ihre Kutsche. Doch irgendwie sah sie nicht real aus, wie eine Sinnestäuschung. Für einen Moment guckte der Kopf eines Mädchens aus dem Fenster. Das Mädchen schaute sie direkt an, und eine in einem weißen Handschuh steckende Hand winkte ihnen fröhlich zu.
„Wer war das?“, fragte Bruce.
„Oh, eine alte Freundin von mir“, antwortete Kristin. „Auf den Weg in die
Flitterwochen, denke ich.“
Die andere Kutsche verschwand hinter den Bäumen.
Ende