Latexdame Jannette 'historische' Korsettgeschichten

Der Große Aufstand

von Stephen

Alle Rechte und weitere Nutzung beim Autor.

Übersetzung: Jannette

Kapitel Sechs

Der Ball nimmt seinen Lauf. Da Tanzen und die Gäste- Unterhalten die Hauptaufgaben der Mädchen sind, haben sie eine anstrengende Nacht vor sich.
Wenn ein Korsett viel zu eng geschnürt ist, nimmt jede körperliche Tätigkeit einen gleich den ganzen Atem. Die meisten Mädchen hätten es viel lieber vorgezogen weniger stark geschnürt zu sein, doch diese Chance haben sie nicht. So stehen viele Mädchen nach Luft ringend an den Wänden oder Säulen und fächeln sich mit ihren Handfächern Luft zu. So versuchen sie die Zeit zu überbrücken bis sie an der Reihe sind heimlich für eine kurze Verschnaufpause verschwinden zu dürfen. Es sind zwar nur jeweils 10 Minuten, aber wenigstens dann können sie fast unbehindert atmen. Doch statt an einer Wand angelehnt stehen zu können, müssen sie immer wieder Walzer oder gar Polka tanzen, was wiederum für die Füße sehr schmerzhaft ist.
Die drei Mitglieder des revolutionären Triumvirats überwachen mit ihren Blicken den Ballsaal. Sie halten nach den Mädchen Ausschau und sind erleichtert dass niemand bis zum ersten heimlichen Austausch in Ohnmacht gefallen ist.

Bei der Vorbereitung für den Ball hatten sie angenommen dass das Tanzen das größte Problem wäre, aber dem war nicht so. Sie mussten lernen, dass die kleinen Dinge am Rande noch viel wichtiger waren. Alle Mädchen mussten schön und begehrenswert aussehen, trotz der eng geschnürten Korsetts, welche schmerzhaft drückten und ihnen die Luft nahmen. Es war ein hartes Stück Arbeit dies zu bewältigen. Die Mädchen mussten lernen trotz jener widrigen Umstände charmant auszusehen und immer zu lächeln.

Beinahe jedes Mädchen muss hin und wieder feststellen, dass ihr jeweiliger Tanzpartner sie plötzlich besorgt anschaut. Sie wissen sofort, dass ihr unbeschwert erscheinender Gesichtsausdruck für einen kurzen Moment verschwunden ist. Außerdem haben einige Mädchen immer noch Probleme beim Tanzen, denn sie haben erst sehr spät die neuesten Tänze gelernt und haben somit Probleme sich leicht und beschwingt zu bewegen. Und schließlich ist da noch die wahrlich wichtigste Aufgabe: Die Mädchen müssen die Gäste unterhalten. Sie müssen sich mit ihnen unterhalten, freundlich und heiter wirken. Sie müssen sich gegenüber den jungen Kadetten zurückhaltend- verführerisch geben. Sie müssen die oder den jeweiligen Gesprächspartner bei Laune halten ohne aufdringlich zu wirken. Sie müssen über jeden Witz, jede lustige Bemerkung lachen, selbst wenn ihnen nicht danach zumute ist. Darüber hinaus müssen die Mädchen schüchtern oder gar leicht schockiert wirken, wenn etwas derbere Bemerkungen gemacht werden. Sie müssen mit den viel zu engen Handschuhen ihre Fächer, sowie Kopf und Oberkörper würdevoll aufrecht halten...

Jetzt kommt ihnen das zugute, was Miss Badsteel ihnen mittels eisernen Drill beigebracht hatte. Die Mädchen erkennen dass die Lehrerin doch nicht so schlecht ist, egal wie streng und bösartig der Unterricht gewesen war. Jetzt benötigen sie all die erlernten Fähigkeiten, die das revolutionäre Triumvirat bekämpft und verworfen hat. Jetzt erkennen die Mädchen den Sinn und den Nutzen des harten Unterrichts und wünschen sich nicht an dem Aufstand teilgenommen zu haben. Aber dafür ist es nun zu spät. Sie müssen improvisieren und hoffen dass es gut geht.

Auf dem ersten Anschein sieht der Abend wie jeder andere Ball aus: Die kräftige Uniformfarbe der Militärkadetten steht in einem schönen Kontrast zu den edlen pastellfarbenen Ballkleidern der Mädchen. Diamanten und andere Edelsteine funkeln im Licht der hell leuchtenden Gaslampen. Das Streichquartett spielt, die Tanzpaare wirbeln über der Tanzfläche, hunderte von Unterröcken rauschen, schöne junge Männer halten die zerbrechlich wirkenden Wespentaillen von Miss Badsteels Schülerinnen fest. Dennoch liegt eine unheimliche Anspannung in der Luft. Die Mädchen haben Angst dass ein Korsett bricht, oder gar ein Kleid zerreißt.

Im Laufe des Abends bemerken allerdings die Kadetten, dass etwas nicht stimmt. Niemand ist länger als ungefähr zwanzig Minuten mit ein und demselben Mädchen zusammen. Ständig entschuldigen sich die Mädchen und verschwinden anschließend durch eine der Seitentüren. Nicht alle Kadetten bemerken es, aber irgendwie haben sie das Gefühl dass etwas nicht stimmt. Die Eltern bemerken es ebenso und sind entsetzt.

Anfangs, als die Eltern die ersten Tänze gemeinsam machen, kann man hin und wieder abschätzige Bemerkungen über die Töchter der anderen Eltern hören. Schließlich halten jede Mutter und jeder Vater die eigene Tochter für die Schönste, die charmanteste Gesprächspartnerin und die beste Tänzerin. Natürlich hat auch die eigene Tochter die schmalste Taille. Während des Abends wechseln die Tanzpartner, und wenn die Erwachsenen mit den jungen Leuten tanzen, werden die Eltern immer zügelloser. Sie genießen es mit den jungen und schönen Schülerinnen, sowie mit den jungen Kadetten zu tanzen. Sie fangen an ihre Tanzpartner und Tanzpartnerinnen mit zweischneidigen Fragen zu necken. Doch mit der zunehmenden Verknappung von Mädchen kippt die Stimmung. Der Wettbewerb um eine Tanzpartnerin wird härter, und es entstehen kritische Momente. Die Mittel werden etwas rüder, bleiben aber immer noch galant. Der Mangel an Mädchen zwingt auch immer mehr Kadetten in die Arme der Matronen, und einige der älteren Frauen finden ein alarmierendes Vergnügen daran.

Lady Patricia findet Gefallen daran einen Kadetten nach dem anderen zu verführen. Dabei sieht sie so vergnügt aus, als ob sie Süßigkeiten verspeisen würde. Wahrscheinlich macht sie es aus einem Rachegefühl heraus, da sich ihr Ehemann geweigert hat mehr als nur einmal mit ihr zu tanzen. Er verbringt vielmehr den ganzen Abend bei Miss Badsteel, welche sich fast unbeweglich im Hintergrund aufhält. Sie steht dort an einer Tür und beobachtet ihre Schülerinnen. Godfrey flirtet und scherzte mit ihr. Aber egal was er sagt, er kann sie nicht davon überzeugen mit ihm zu tanzen.

*****

Ein Paar Stunden später: Gertie liegt gerade im Ruheraum, um sich mit gelockertem Korsett zu entspannen. Giuliana, welche gerade vom Ruheraum kommt, trifft auf Netta, welche als Nächste an der Reihe ist. Sie wollen kurz ihre Taktik besprechen. Damit sie nicht auffallen, setzen sie ein Lächeln auf und reden ganz leise, damit niemand etwas bemerkt. Es soll so aussehen, als wenn sich zwei Mädchen über ihr Aussehen oder die schönen Kadetten unterhalten.
„Es bricht auseinander“, sagt Netta.
„Was? Dein Korsett?“
„Nein, unser System. Schau dir Elke an.“
Beide schauen zur anderen Seite des Saals. Dort steht ein blondes Mädchen. Sie trägt ein exquisites, aber äußerst enges und unbequemes himmelblaues Ballkleid. Sie befindet sich im Arm eines hinreißenden jungen Kadetten. Seine Uniform sitzt perfekt. Seine Lederschuhe glänzen mit den Messingknöpfen seiner Uniform um die Wette. Dennoch sieht man, dass sie seine Gesellschaft nicht so gut genießt, wie sie es sollte. Anstatt mit ihm zu tanzen, hinkt sie langsam von der Tanzfläche herunter. Sie schaut angestrengt nach oben und hat eine Hand auf ihre schmale Taille gelegt, als ob sie dadurch den Druck mindern könnte. Sie bewegt sich nicht wie eine verführerische Schönheit, sondern mehr wie jemand, der gerade bei einem Kampf einen heftigen Schlag erhalten hat.
„Armes Mädchen“, sagt Giuliana. „Ihr Korsett muss sie fast umbringen. Und sie geht, als ob ihre Füße unglaublich stark schmerzen würden. Wie kann das sein? Ich weiß dass ihr Korsett sehr eng ist, aber sie hatte doch nie Probleme mit den Schuhen gehabt.“
„Ihre Abendschuhe sind zu eng“, sagt Netta. „Die schönsten Abendschuhe sind immer zu eng. Nicht so eng wie jene furchtbaren Stiefel, die du Miss Badsteel aufgezwungen hast, Aber immer noch so eng, dass man sich lieber sofort hinsetzen möchte. Das Problem liegt aber wohl darin, dass sie sich nicht wegen des langen Korsetts hinsetzen kann. Sie hat schon den ganzen Abend gestanden, und jetzt schmerzen ihre Füße fürchterlich...“
Giuliana schaut sich genauer um. Jetzt erst erkennt sie, dass die meisten Mädchen nicht mehr sehr gut aussehen. Keine schafft es mehr elegant zu wirken. Sie erkennt auch, dass es fast ein Gedrängel vor der Tür zum Ruheraum gibt.
„Hey! Das dürfen sie nicht tun! Sie sind erst in sieben Minuten an der Reihe!“
„Sie können nicht mehr, Giuli. Sie wollen alle nur noch in den Ruheraum um sich zu erholen. Und die, welche darin sind, wollen nicht mehr herauskommen. Gertie ist dort und versucht sie unter Androhung des Strafkorsetts wieder heraus zu treiben. Gott ist mein Zeuge, als wir den Aufstand unternahmen wollte ich genau jene abscheulichen Dinge stoppen, und niemand sollte mehr darunter leiden. Alle, außer Miss Badsteel, denn sie hat es verdient. Ich hasse, was Gertie gerade tut, und ich glaube nicht dass sie Erfolg hat. Wenn die Mädchen gegen sie rebellieren, was geschieht dann mit uns?“
„Dann gehen wir nach Hause“, sagt Giuliana beruhigend. „Mache dir keine Sorgen. Nur noch ein paar Stunden, und wir können alle gehen.“

Während der nächsten sieben Minuten gehen die beiden von einem Mädchen zum anderen. Sie versuchen die Mädchen aufzuhalten, reden sanft auf sie ein. Und wenn sanfte Überredungskünste nicht wirken, sagt Giuliana mit einem aufgesetzten Lächeln zu den leidenden Flüchtlingen: „Wenn du zu früh im Ruheraum erscheinst, wird Gertie dich ins Strafkorsett stecken. Sie hat viel von Miss Badsteel gelernt.“
Es wirkt, hinterlässt bei ihr einen schalen Geschmack. Sie ist der Überzeugung dass sie damit den großen Aufstand verraten hat und traut sich nicht mehr Netta in die Augen zu schauen.

Der Zeiger der Uhr kraucht im Schneckentempo vorwärts, und schließlich darf Netta mit ihrer Gruppe in den Ruheraum. Giuliana tritt zurück und muss ansehen, wie ihr Plan in die Brüche geht. Sie hatte darauf gehofft dass der Wechsel fließend vor sich gehen würde. Aber es entsteht eine nicht zu übersehende Fluchtbewegung. Jetzt ist es offensichtlich dass etwas nicht stimmt.
Netta betritt einen überfüllten Raum, wo die Mädchen die ganze Zeit nur noch auf die Uhr schauen. Als die neue Gruppe eintritt, bekreuzigen sich einiger der anwesenden Mädchen und versuchen sich so schnell wie möglich wieder anzuziehen. Jetzt ist der Wechsel, welcher fließend und unbemerkt vor sich gehen sollte ins Stocken geraten, denn als Nettas Gruppe verschwindet, kommt Gerties Gruppe nicht zurück. Mit einem Male sieht der Ballsaal furchtbar leer aus, und Giuliana fühlt sich allein und ungeschützt.
Vier lange Minuten vergehen, bevor ein paar Mädchen zögernd in den Ballsaal zurückkehren. Es ist nicht mehr zu verbergen dass da etwas Faul ist. Die meisten Eltern hören auf zu tanzen und starren zu jener Tür. Es ist gegen die Etikette, sich in das einzumischen, was hinter der Tür vor sich geht, aber es entsteht natürlich eine gewisse Neugier. Giuliana ist sich sicher, dass es deswegen früher oder später lästige Fragen geben wird. Im Augenblick hat sie aber ein anderes Problem: Gerties Gruppe hat sich vier Minuten länger im Ruheraum aufgehalten als geplant. Sie ist sich sicher, dass es ihrer eigenen Gruppe ähnlich ergehen wird. Wenn aber jede Gruppe immer längere Pausen einlegt, müssen die anderen umso länger im Ballsaal verbleiben. Die Katastrophe ist vorprogrammiert.
Während sie auf Gertie wartet, muss sie sich mit einem kahlköpfigen älteren und sehr niveauvollen Herrn unterhalten. Dabei vermeidet sie es geschickt, dass seine Hand ihre Taille umgreift, um sie zur Tanzfläche zu ziehen. Als sie endlich Gertie sieht, sagt sie hastig: „Wenn sie mich bitte entschuldigen würden!“ Und schon läuft sie zu ihrer Freundin.
„Was habt ihr nur gemacht?“, zischt sie, als sie ganz nah bei Gertie steht. „Ihr seid fast fünf Minuten zu spät, und einige deiner Gruppe sind immer noch nicht erschienen!“
Giertie sieht müde aus. Ihre Maske aus Charme und Gemütsruhe ist fast von ihr gegangen. Sie kann nicht mehr vortäuschen dass ihr der Ball gefällt. „Das ist nicht meine Schuld. Ich habe mein Bestes gegeben. Ich glaube nicht dass wir es noch lange durchstehen können.“
„Und was sollen wir dann machen?“
„Ich weiß es nicht! Oh, es tut mir so Leid, Giuli. Ich weiß, dass deine Idee mit den Gruppen gut ist, und dass du dir damit so viel Mühe gegeben hast. Mir wäre niemals etwas Besseres eingefallen. Doch es funktioniert nicht mehr.“
„Warum nicht? Was ist geschehen?“
„Was geschehen ist? Es gibt einen Aufstand gegen den Aufstand. Die Mädchen weigern sich meine Autorität zu akzeptieren und schnüren sich nicht ihre Korsetts zu, wenn ich es ihnen sage...“
‚Kein Wunder’, will Netta fast sagen. Denn warum sollten die Mädchen gehorchen wenn man ihnen mit einem Strafkorsett droht?

Es entsteht eine nachdenkliche Pause.

„In Ordnung“, sagt Gertie, „Es ist vertan. Ich wollte es nicht, aber sie zwingen mich dazu...“
„Weißt du eigentlich dass du wie Miss Badsteel klingst? Du könntest glatt ihre Tochter sein!“
„Sage nicht so was! Sage das nie wieder! Hast du mich verstanden? Ich hasse sie!“ Gertie schüttelt sich, doch ihr enges Korsett zwingt sie sich zu beruhigen. „Ich wollte den anderen nicht wehtun, es ist nur... Oh! Moment Mal! Immer wenn ich was anordne, sagst du dass ich wie sie klinge. Vielleicht bin ich... Mal überlegen, was geschehen ist. Eines der Mädchen hatte sich geweigert wieder in das Korsett geschnürt zu werden. Und ich wollte sie unbedingt in das Strafkorsett stecken. Wer weiß, vielleicht hätte sie mich sogar bekämpft. Aber da alle Mädchen ein Abendkorsetts tragen, sind sie zu eng geschnürt um gegen mich anzutreten. Und ohne Korsett ist keines der Mädchen mehr in der Lage auch nur aufrecht stehen zu bleiben. Ich habe ja gesagt, dass die alten Methoden nicht sehr beliebt sind, aber irgendwie scheinen sie immer noch zu funktionieren. Als wir uns gegenseitig wieder die Korsetts enger schnürten rissen einige Schnüre. Ich denke das liegt daran, dass wir heute Abend zu oft die Korsetts auf und zugeschnürt haben. Und was kann man in so einer Situation tun? Man schnürt eines der Mädchen in ein Strafkorsett, bis es um Gnade fleht. Ja, und dann kann man so gnädig sein und es zur Trapezstange führen, damit man ihr wieder das Abendkorsett anlegen kann. Man weist die Magd an, das Mädchen wieder eng zu schnüren und schon kehrt Ruhe ein. Egal wofür man sich entscheidet, es dauert lange, denn es gibt keine Ersatzschnüre mehr. Eine der Mägde musste gehen um neue zu holen. Das war der Grund warum wir solange brauchten, denn es waren viele Korsettschnüre zerrissen. Es ist furchtbar.“
Giuliana nickt traurig. „Und selbst wenn alle gehorsam sind“, fügt sie hinzu, „braucht man sehr lange ein Korsett wieder bis auf das erforderliche Maß der Ballkleider zu schnüren.“
„Genau. Wir müssen langsam schnüren, sonst werden die Mädchen ohnmächtig oder die Schnur reißt. Darum haben wir so lange gebraucht. Wir mussten auf neue Schnüre warten und langsamer die Korsetts schnüren. Einige werden wohl noch im Ruheraum sein, wenn meine Gruppe wieder zurückkehrt. Was soll man nur dagegen tun?“
Giuliana zuckt mit den Achseln „Nichts. Von mir aus kannst du die Führung übernehmen. Ich gebe auf.“
„Was? Aber das war deine Gottverdammte Idee! Du kannst mich jetzt nicht einfach in Stich lassen!“
„Die Idee mit den Gruppen kam von mir, Gertie, Strafkorsetts aber nicht. Wenn du den Mädchen weiterhin damit drohen willst, werde ich dir nicht mehr helfen. Überlege es dir.“ Sie dreht sich laut rauschend um und geht ohne jede Eleganz los. Das hat ihr jedenfalls Miss Badsteel nicht beigebracht.
Gertie ruft ihr hinterher: „Giuli! Komm zurück!“
Aber sie nimmt keine Notiz davon und verschwindet schnell in der Menge.

Gertie hat den plötzlichen Drang sich weinend, mit dem Gesicht nach unten, auf den Fußboden zu werfen, doch sie unterdrücken es. Sie will dass der Ball um jeden Preis, egal wie hoch er ist, weitergeht. Sie geht beschwingt durch den Ballsaal. Sie sieht sehr schön aus in ihrem edlen Kleid mit einer Taille, welche kaum dicker als ein Männerhals ist. Ihr schönes Gesicht scheint Gelassenheit auszustrahlen. In Gedanken befasst sie sich mit den Problemen des nicht mehr richtig funktionierenden Plans, aber sie lässt nicht zu dass man ihr das ansieht. Wenn die Gäste sehen könnten dass sie sich Sorgen macht, könnte es nur noch schlimmer werden. Alles ist so kompliziert, und die einzige Idee, die sie hat, ist mit allen Mädchen zu reden, sie entweder zu überreden, oder ihnen zu drohen. Sie weiß dass Giuliana Recht hat, und dass es nur noch an ihr liegt die Krise zu meistern. Sie hofft dass das System bis zum Ende aufrecht gehalten werden kann, damit die Mädchen ohne Probleme nach Hause fahren können.

Als sie nach Netta Ausschau hält, sie hat Angst dass Netta die anderen Mädchen mit ihren Befürchtungen ansteckt, fasst jemand ihren Arm an. Sie schaut nach unten und sieht eine lange Hand in einem glänzenden weißen Glacehandschuh. Die Hand gehört zu einer schlicht wirkenden Frau, mit einem mageren Gesicht, sowie einer langen Nase. Die Frau hat dünnes strähniges braunes Haar und schaut Gertie ziemlich traurig an. Sie trägt zwar ein teuer aussehendes Kleid, doch es sieht nicht sehr geschmackvoll aus. Irgendwie sehen weder das Kleid, noch die Frau hübsch aus. Als Gertie neben ihr steht, könnte man meinen es stünde eine leuchtende Kerze neben einen Leuchtturm. Gertie schert sich nicht darum, denn sie kennt diese Dame.
„Hallo Ma.“
Ihre Mutter lächelt sanft. „Hallo, Schatz. Wie geht es dir?“
„Oh, du weißt schon, gut. Ich versuche heute Abend kontaktfreudig zu sein und schaue nach dem Rechten. Ich hoffe du amüsierst dich gut?“
„Ja, im Großen und Ganzen, und ich hoffe dass du dich auch amüsierst. Was macht dein Korsett?“
Diese dumme Frage hat Gertie gerade noch gefehlt. Sie überlegt kurz was sie sagen soll und antwortet: „Alles ist gut. Vielen Dank. Und wie ist es bei dir?“
Frau Fitzcollins lacht und legt eine Hand auf ihre eng geschnürte Taille. Sie schließt kurz vor Schmerz ihre Augen. „Frage mich lieber nicht. Ich habe dich deswegen gefragt, weil ich bemerkt habe wie du gerade nicht sehr glücklich ausgesehen hast. Ich weiß wie schwierig es beim ersten Ball ist. Mein erster Ball war jedenfalls fürchterlich gewesen. Hinterher musste man die Korsettschnur aufschneiden. Ich will nicht dass es auch bei dir passiert. Hat Miss Badsteel dich so trainiert dass es dir dennoch bequem erscheint, oder hast du jetzt Probleme?“
„Ich würde lügen wenn ich sage es ist bequem, Ma. Könnte es denn mit einer solchen Taille überhaupt bequem sein? Aber ich glaube nicht, dass ich ohnmächtig werde. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich muss mich um die anderen kümmern. Schließlich kann ich mich nicht die ganze Nacht nur mit meiner Mutter unterhalten...“
„Oh, lass dich nicht von mich aufhalten! Für mich bist du die Schönste des ganzen Balls. Mehr kann eine Mutter nicht von ihrer Tochter erwarten. Dein Kleid ist einfach perfekt, und deine Figur so schön, also, andere würden alles dafür geben.“
„Ich hoffe du weißt dass ich mich von dir geehrt fühle“, sagt Gertie voller Stolz. „Ich meine, Ma, ich will nicht beleidigend klingen, aber ich bin schon froh nicht dein Gesicht geerbt zu haben.“
„Ja“, sagt ihre Mutter. „Ich denke, du hast Recht. Du kannst nicht wie ich aussehen.“ Diese Worte schmerzen und das kann man an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, aber Gertie interpretiert es anders. Sie ist der Meinung dass es nicht so schlimm ist, wenn eine Tochter ihrer Mutter unangenehme Dinge sagt. Doch dann wechselt Frau Fitzcollins das Thema, und jetzt muss Gertie etwas hören, was ihr nicht gefällt. „Ich möchte gerne wissen... Was geht dort in dem Raum hinter der Tür vor?“
Gerties Herz sackt in die tiefsten Tiefen ihres Korsetts als ihre Mutter auf die besagte Tür zeigt. Sie versucht sich eine gute Lüge auszudenken, denn sie muss dringend dorthin um sich um die Mädchen zu kümmern. „Oh, nichts Besonderes. Warum fragst du?“
Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter sagt ganz deutlich: ‚Unterschätze nicht meine Intelligenz!’ So fährt Gerties Mutter fort: „Es sieht ganz so aus, als wenn eine große Anzahl von Mädchen dorthin strebt, und das geht schon den ganzen Abend so... Und nach einer Weile kommen andere Mädchen wieder zurück. Ich habe bemerkt, dass einige Mädchen das schon fünf oder sechs Mal getan haben. Eigentlich glaube ich, dass jedes Mädchen schon dort war. Was geschieht dort hinter der Tür?“
Probleme!
„Oh, ja, Ma, wenn du es unbedingt wissen willst. Einige der Mädchen gehen dorthin um sich das Korsett für eine Weile lockern zu lassen. Du weißt doch, wenn man wegen des engen Korsetts Probleme bekommt, ist es besser hinter den Kulissen zu verschwinden. Dort kann man ungestört das Korsett für eine kurze Zeit lockern. Das ist immer noch besser als mitten im Ballsaal ohnmächtig zu werden.“
Das ist einleuchtend, denn Gerties Mutter erinnert sich an ihren ersten Ball, und an den Scham, als sie in Ohnmacht gefallen war und ihre Korsettschnur zerschnitten werden musste. Daran wollte sie auf gar keinen Fall wieder erinnert werden. „Oh. Ich verstehe. Aber...“
„Ma, was aber?“ Gertie versucht nicht unwirsch zu klingen, aber sie ist nicht erfolgreich.
„Zügele dein Temperament, Schatz! Es wird dir nicht gut tun wenn du dich in dem eng geschnürten Korsett aufregst. Es ist nur... Du hast mir gesagt dass du dich wohl fühlst, aber ich habe mehrmals gesehen wie auch du durch jene Tür geschlüpft bist. Du bist immer mit den gleichen Mädchen verschwunden. Bist du sicher, dass du keine Probleme mit deinem Korsett hast?“
„Ich...“
„Und als ich vor einiger Zeit dort drüben stand, hörte ich einige wirklich seltsame Geräusche. Ich hörte jemanden weinenden, und jemanden anderen bitten dringend aufgeschnürt zu werden. Und ich bin sicher, dass ich jemanden rufen hörte: ‚Wenn du nicht tust was ich dir sage, werde ich dich in das Strafkorsett schnüren’. Und ich kenne diese Stimme, sie klang genauso wie deine Stimme. Außerdem warst du zu jenem Zeitpunkt nicht im Ballsaal. Möchtest du mir nicht endlich etwas sagen?“
In jenem Moment fragt sich Gertie warum das Schicksal ausgerechnet ihr eine derart schlaue Mutter beschert hat. „In Ordnung. Ich bin vielleicht ein paar Mal in jenem Raum gewesen, weil ich Probleme wegen meines Korsetts bekommen hatte. Es ist nicht so, wie du denkst, Ma. Du brauchst dir keine Sorgen machen. Alles ist unter Kontrolle.“
Ihre Mutter schaut sie eindringlich an. „Und was war mit dem Strafkorsett?“
Gertie zuckt mit den Achseln. „Ehrlich, Ma, davon weiß ich nichts.“
Plötzlich erklingt ein: „Psst!“
Gertie schaut sich hastig um und sieht wie Giuliana einige widerwillig aussehende und viel zu eng geschnürte Mädchen aus dem Nebenraum heraus treibt. Sie sieht verärgert als auch besorgt aus und zeigt mit dem Daumen zur Tür. Dann deutet sie auf die Uhr. Gerties Gruppe ist an der Reihe.
„Äh, Ma, ich befürchte dass du mich jetzt entschuldigen musst. Ich muss gehen, äh, mit jemanden sprechen.“
Sie will schnell von ihrer Mutter weg gehen, aber ihre Mutter hält sie am Handgelenk fest.
„Gertie! Es ist dein Korsett, oder? Es ist unbequem, und du willst es aufschnüren!“
„Um Himmels Willen, ja! Ja, Ma, es nimmt mir den Atem. Ich gehe jetzt nach nebenan um es kurz zu lockern. Überlege mal. Was für eine Alternative habe ich denn? Ich befürchte sonst ohnmächtig zu werden und dann liege ich auf dem Fußboden bis jemand mit einem Messer kommt, mein Kleid zerstört und die Korsettschnur zerschneidet. Mein Korsett und das Kleid würden dabei zerfetzt werden. Ich will nicht, dass mir das Gleiche passiert wie einst dir.“ Sie hofft dass ihre grob klingende Antwort das Gespräch beendet. Sie lässt einfach ihre Mutter stehen und geht aus so schnell sie kann zur Seitentür. Die meisten ihrer Gruppe sind schon verschwunden. Allerdings sind immer noch nicht alle von Giulianas Gruppe zurückgekehrt. Der Ballsaal sieht leerer aus als jemals zuvor.

*****

Im Ruheraum ist Gertie in ihrem Element. Sie ist zwar immer noch beunruhigt, aber jetzt kann sie was dagegen unternehmen. Sie kommandiert die Mädchen herum und kann sie drangsalieren, was ihr ein großes Vergnügen bereitet. Sie hat ihr Kleid, als auch das Korsett leicht geöffnet, damit sie ungehindert im Raum herumhantieren kann. Sie sagt was zu tun ist und vergewissert sich dass ihre Anordnungen ausgeführt werden. „Elke! Dein Korsett ist zu weit gelöst worden! Du wirst niemals wieder rechtzeitig in dein Ballkleid passen. Nein! Du brauchst dich nicht mit mir zu streiten! Dein Korsett muss sofort 4 Zentimeter enger geschnürt werden. Und wenn ich auch nur einen Pieps von dir höre, stecke ich dich in das Strafkorsett! Hey, du, wie ist dein Name? Wage nicht dich hinzusetzen! Du könntest dein Korsett beschädigen! Du darfst stehen oder liegen, aber nicht sitzen. Was machst du denn da? Versuche bloß nicht deine Handschuhe auszuziehen. Du wirst sie heute Nacht nicht mehr anbekommen! Maud, hör auf zu murren. Das Strafkorsett ist überhaupt nicht eng. Miss Badsteel schnürt es normalerweise viel enger. Es ist ganz allein deine Schuld. Du hast dich geweigert eng geschnürt zu werden. Es ist Zeit dass wir alle wieder unsere Korsetts zuschnüren lassen! Wir müssen wieder nach draußen! Was? Oh mein Gott!“

Jemand hat auf ihre Schulter geklopft. Gertie dreht sich um und sieht das Gesicht ihrer Mutter. Frau Fitzcollins sieht nicht sehr glücklich aus.

„Also, Gertie! Kannst du mir das hier erklären?“
„Oh, hallo, Ma! Ich war nur... äh... also...“
Ihre Mutter schaut sich um. „Warum trägt jenes Mädchen ein Strafkorsett?“
„Oh, äh, Miss Badsteel muss wohl irgendwie über sie verärgert gewesen sein...“
„Das war nicht Miss Badsteel!“, ruft das Mädchen. „Sie war es! Ihre Tochter! Sie hat mich in dieses Ding geschnürt!“
„Also, Ma, natürlich glaubst du ihr nicht...“
„Sie tat es. Es ist alles ihre Schuld!“
„Ja! Nur sie hat uns das angetan! Sie ist diejenige, die uns so eng schnüren lässt, dass wir kaum noch atmen können!“
Und plötzlich wird Gertie von einem Chor weinender Mädchen angeklagt:

„Sie hat so hart an meiner Korsettschnur gezogen dass sie gerissen ist!“

„Sie lässt uns nicht genug ausruhen, bevor wir wieder in unsere Ballkleider geschnürt werden!“

„Sie hat mein Abendkorsett bis auf 42 Zentimeter geschnürt und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Und das nur weil ich gesagt habe dass mein Ballkleid zu eng ist!“

„Wenn du denkst dass das hart ist, dann muss ich sagen, dass sie mich mit Absicht bis zur Ohnmacht geschnürt hat!“

„Sie ist so schlecht wie Miss Badsteel!“

„Sie ist viel schlimmer!“

Und so erklingt ein Jammern und Klagen gegen Gertie. Einige der Mädchen bekommen hoch rote Köpfe oder stehen kurz davor in Tränen auszubrechen. Sei sind alle sehr wütend auf Gertie, welche entsetzt zurückweicht und Schutz hinter ihrer Mutter sucht.
Auch Frau Fitzcollins weicht etwas zurück. Doch dann ruft sie: „Hey! Mädchen! Beruhigt euch! Bitte beruhigt euch! Ich bin sicher, dass wir eine Lösung des Problems finden werden. Aber zuerst müsst ihr euch beruhigen!“
Die Mädchen ignorieren sie und machen weiter.
Noch einmal erhebt Frau Fitzcollins ihre Stimme und sagt: „Hört mir zu! Ich weiß dass ihr verärgert seid. Aber wenn ihr euch nicht schnellstens beruhigt, werdet ihr ohnmächtig oder eure Korsetts brechen auf. Damit ist keinem gedient, oder? Also?“
Der Zornausbruch legt sich, und wird durch heftiges Atmen und Stöhnen ersetzt.
Es stimmt: Die Taillen der Mädchen sind zu eng geschnürt, um sich körperliche wehren zu können. Langsam und ungeschickt schnüren die Mädchen ihre Korsetts zu, schließen die Kleider, und gehen trotz der engen und langen Röcke hinaus. Gertie versteckt sich derweil immer noch hinter ihrer Mutter.
Frau Fitzcollins dreht sich um und schaut Gertie an. „Nun, Gertie, was hast du dazu zu sagen?“
Gertie seufzt. „Ich habe dich angelogen, Ma. Dich und all die anderen.“
„Das habe ich bemerkt. Und wie lautet die Wahrheit?“
„Das ist eine lange Geschichte. Willst du alles hören?“
„Ich bestehe darauf.“
„Oh weh! Also. Miss Badsteel war wirklich gemein zu uns gewesen. Wirklich, wirklich gemein. Mit allem Erdenklichen, wie Strafkorsetts und anderen schmerzhaften Sachen. Und immer war ich die Hauptleidtragende, als wenn sie es nur auf mich abgesehen hätte. So haben wir einen Aufstand unternommen. Eines Nachts überrumpelten wir Miss Badsteel und steckten sie in ein Strafkorsett. Das taten wir auch mit den anderen Lehrerinnen. Dann haben wir über alles die Verantwortung übernommen. Netta, Giuli und ich, wir nannten uns das revolutionäre Triumvirat. Ich sorgte dafür dass es keine Strafschnürungen mehr geben sollte. Alle bis dahin geltenden Figurtrainingsprogramme wurden verworfen.“
Frau Fitzcollins nickt grimmig. „Ich verstehe. Und als der Ball anstand, passte keines der Mädchen in sein Ballkleid.“
„Das war das Resultat. Da die meisten nicht mehr mit dem Figurtraining weitermachten, musste ich versuchen sie zu überzeugen.“
„Mit Strafkorsetts?“
Gertie nickt.
„Also doch. Und warum dieses Kommen und Gehen?“
„Also, Wir dachten dass niemand länger als zwanzig Minuten in seinem Ballkorsett überleben würde ohne ohnmächtig zu werden. Also haben wir drei Gruppen gebildet. Zwei sollten im Ballsaal sein, und die dritte Gruppe hier, um sich zu erholen.“
„Ein guter Plan... Aber als der Abend immer später wurde, gab es Schwierigkeiten die Mädchen wieder in den Ballsaal zurück zu schicken. So wie gerade, ja? Also, ihr drei, eigentlich alle Mädchen, habt uns den ganzen Abend was vorgemacht, uns angelogen. Es sollte wie ein normaler Ball aussehen. Das hattet ihr vor, nicht wahr?“
„Ja.“ Gertie würde gerne auf der Stelle vor Scham in den Boden versinken. Doch dann kommt in ihr der Drang hoch sich zu verteidigen. „Ich weiß, dass es Unrecht war. Aber ich tat nur mein Bestes. Ich will doch nur dass der Ball so gut wie möglich über die Bühne geht. Miss Badsteel, sie, sie war zu hart zu uns. Abgesehen davon, hast du mich denn noch nie angelogen?“
Frau Fitzcollins knöcherne Wangen fangen an zu glühen. „Ich habe, Gertie... schau... Du darfst nicht so hart zu Miss Badsteel sein. Sie ist sehr stolz auf dich. Du bedeutest ihr sehr viel.“
„Dann hat sie aber eine komische Art es zu zeigen.“
Frau Fitzcollins schaut sich im Ruhraum um. Alle Anwesenden können das Gespräch hören. „Komm, gehen wir nach draußen, zum Ballsaal. Ich will nicht dass die anderen es mitbekommen.“
Ergeben und leicht niedergeschlagen folgt Gertie ihrer Mutter in den Tanzsaal. Sie suchen ein ruhiges Fleckchen, was gerade nicht sehr schwer ist, da viele Mädchen sich geweigert haben den Ruheraum zu verlassen. Gertie sieht Netta, aber bringt es nicht übers Herz ihr etwas zu sagen.

„Du hast vorhin gesagt“, fährt Frau Fitzcollins fort, „dass du froh bist nicht so wie ich auszusehen. Dafür gibt es einen Grund. Ich bin nicht deine Mutter, Gertie.“
Gertie taumelt und ihre Mutter hält sie schnell an beiden Schultern fest. „Langsam, Schatz, ganz ruhig! Möchtest du aufgeschnürt werden?“
„Nein, nein... ich bin... es geht mir gut. Ich... Ich brauche nur eine Minute.“ Sie keucht. Und schließlich nickt sie und sagt: „Ich... fahre fort.“
„Bist du dir sicher? Gut. Dann fahre ich fort. Wir können keine Kinder bekommen, Schatz. Ich glaube, dass ich es wohl bin. Es kann aber auch an deinem Vater liegen. Wir wissen es nicht. Wir haben es so oft versucht, aber nichts geschah. Ich wollte so gerne ein Baby haben. In meiner Verzweifelung tat ich viele dumme Dinge. Ich fing sogar an mein Korsett nicht mehr so eng zu schnüren. Ich band mir sogar ein Kissen vor dem Bauch um vorzutäuschen ein Baby zu bekommen.“
Gertie schaut sie mit weit geöffnetem Mund an.
„Ich weiß, ich weiß. Ich konnte es nicht länger ertragen! Alle meine Bekannten und Freundinnen bekamen Kinder, und ich hasste mich, weil ich keines bekam...“
„Und was hattest du vor, als die neun Monate vergangen waren?“
„Ich wusste es nicht. Doch das Schicksal half. Ein Geschäftsfreund von deinem Vater aus England sandte eine Nachricht. Sie war sehr intim. Sein Sohn hatte eine Angelegenheit mit der Gouvernante gehabt, und sie bekam ein Kind. Wir wurden gebeten auf diese junge Frau aufzupassen, bis sie das Baby bekam. Ich stimmte sofort zu und hatte eine Idee...“
„Dieser Freund von Pa, war er etwa Nettas Großvater?“
Frau Fitzcollins schaut Gertie überrascht an. „Woher weißt du das?“
„Nenn es eine Vermutung. Fahre bitte fort, Ma.“
„Gut. Diese junge Frau tauchte bei uns auf. Sie war einst sehr bekannt für ihre schmale Taille. Als sie bei uns ankam, wurde ihr Taillenumfang größer und größer. Ich hatte doch diese Idee. Ich sagte zu ihr: ‚Liebes Mädchen, wenn ich ihnen ein paar tausend Dollar gebe, würden sie mir ihr Baby überlassen? Sie können sich nicht als allein- stehende Frau mit einem Kind sehen lassen, aber ich sehne mich so sehr nach einem Baby. Ich werde es hüten und Pflegen, als wenn es mein Kind ist.’ Sie stimmte schließlich zu, und dann blieben wir solange zu Hause, bis sie das Kind zur Welt brachte. Als ich ein paar Wochen später mit dem Baby, und ohne die Kissen unter meinem Korsett, in die Öffentlichkeit hinaustrat, sagten alle: ‚'Oh, ist sie nicht ein Engel? Und du warst ein Engel!“
Gertie fühlt sich als wenn ihre Adern einfrieren würden. „Das Baby war also ich!“
„Ja, mein Engel. Es tut mir so Leid. Ich hätte es dir schon eher sagen sollen.“
Gerties meint plötzlich dass das Korsett sie zu Tode drückt. Sternchen tanzen vor ihren Augen. Sie ist kurz davor ohnmächtig zu werden. „Und wer war die Mutter?“
„Du kennst sie bereits, mein Kind. Es ist deine Schulvorsteherin. Miss Badsteel.“

Gertie rennt von ihrer Mutter fort. Mit einem laut rauschenden Kleid läuft sie so schnell sie kann über die Tanzfläche. Ihr Herz hämmert bis zum Hals hoch und es fehlt nicht mehr viel bis zu einem Ohnmachtsanfall. Ihr Körper schreit dass sie sofort zum Ruheraum gehen soll, um die Mägde zu bitten das Korsett zu lockern, aber sie zwingt sich, sich zu konzentrieren. Sie hat etwas Wichtigeres vor, etwas Lebenswichtiges. Sie kämpft sich durch die tanzende Menge hindurch zu dem Ort, wo Miss Badsteel unbeweglich an der Tür steht. Godfrey Scruttle redet gerade mit ihr. Die Schulvorsteherin ist offensichtlich am Ende ihrer Kräfte. Ihr Kopf sinkt immer tiefer auf den sie würgenden Kragen. Sie blickt kraftlos zu Boden. Gertie schaut Godfrey kurz mit großen Augen an. Dann schubst sie ihn grob zur Seite und betrachtet mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Entsetzen die vor ihr stehende Miss Badsteel.

„... Mammi?“

Ende

Kapitel 5