"Und was, Justine, soll das hier bedeuten?"
Madame Dorozhkina sah nicht aus wie eine zufriedene Frau, ganz im Gegenteil: Ihr
Gesicht war verfinstert.
"Madame Dorozhkina." Arabella knickste. Sie dachte, es wäre am Besten, im Moment
so nett und freundlich wie möglich gegenüber der Schulvorsteherin zu sein, da
sie etwas von ihr wollte.
"Was gibt es?"
"Diese Nahrung, Madame…"
"Was ist mit der Nahrung, Justine? Ist sie unter ihren Niveau?"
"Oh nein, Madame, es ist fein", log Arabella. "Es ist so, dass ich es gut
gegessen habe und noch hungrig bin. Vielleicht vergaßen Svetelina oder der Koch,
dass ich diesen Morgen kein Frühstück bekommen hatte, noch ein Abendessen
gestern abend. Ich bin noch äußerst hungrig, Madame. Entschuldigen Sie bitte."
Madame Dorozhkinas Gesicht schien etwas milder zu werden. Nur ihre Wörter waren
es nicht. "Justine, weder Svetelina, noch der Koch haben irgend etwas vergessen.
Die kleine Mahlzeit ist mit absichtlich so. Ich weiß, dass Sie hungrig sind, und
ich weiß, dass es nicht angenehm ist, aber nach einiger Zeit werden sie es
ertragen können."
"Aber warum, Madame? Was habe ich getan, um diese Strafe zu bekommen?"
"Justine, es ist keine Strafe. Glauben Sie mir, ich versichere Ihnen, dass sie
sich wesentlich schlechter fühlen würden, wenn ich Sie bestrafen würde. Nein, es
ist so, dass alle unsere Mädchen da durch müssen."
"Aber warum, Madame?"
"Warum? Warum? Sie wurden sicherlich sehr unwissend erzogen, Justine. Fakt ist,
mein Mädchen, dass es unmöglich ist eine schmale Taille zu bekommen, wenn man zu
dick ist. Sie haben viel zuviel überflüssiges Fett, Justine, und damit werden
Sie niemals die Taillenweite erreichen, die notwendig ist. Deswegen müssen Sie
abnehmen. Das ist der Grund, warum Sie auf Diät gesetzt werden. Und das ist,
warum Sie Hunger haben. Es tut mir leid, aber so ist das eben."
"Aber…"
"Kein 'Aber', Justine, Ende der Diskussion. Sein Sie jetzt bitte fertig, sonst
kommen Sie zu spät zu Ihren Bewegungs- Unterricht!"
Dann drehte sie sich auf ihren hohen Absätzen um und ging, die Tür hinter sich
zuschlagend, hinaus.
Eine niedergeschlagene Arabella ließ Svetelina das Geschirr wegräumen. Sie
bedeutete dann der Magd, ihr die Puppenmaske wieder aufzusetzen, aber zu ihrer
Überraschung schüttelte das Russische Mädchen ihren Kopf und zeigte zur
Trapezstange.
"Warum?", fragte das Mädchen, bekam aber natürlich keine Antwort. Außerdem
wusste sie ganz genau, dass Madame Dorozhkina nicht gerade begeistert sein
würde, wenn sie nochmal zu ihr kommen müsste. Also war es besser, Svetelina das
tun zu lassen, was sie mit ihr vor hatte. So stand sie ungern auf und ging zur
Schnürhilfe hinüber, wo die Magd ihre Handgelenke fest anbrachte und sie
anschließend hochzog.
Svetelina ging dann zum Rückenteil ihres Kleides, öffnete die Korsettabdeckung
und fing an das Korsett enger zu schnüren. Jene Lockerheit, die sich tagsüber
entwickelt hatte, war schnell verschwunden. Als nach einigen Minuten das
russische Mädchen aufhörte das Korsett enger zu schnüren, war Arabellas Korsett
enger als jemals zuvor. Auf einmal fühlte sie sich ein wenig benebelt. Svetelina
sicherte die Korsettschnur und schloss wieder das Kleid. Sie platzierte die
verhasste Maske auf das hübsche Gesicht des jungen Mädchens, bevor sie Arabella
herunterließ und ihre Handgelenke losband. Sie war jetzt wieder vollkommen
fixiert, kämpfte um genug Atem und war unsicher auf ihren Füßen. Sie war bereit
für die nächste Unterrichtung der La-Maison-des Poupees: Der
Körperhaltungsunterricht.
Der Körperhaltungsunterricht wurde im großen Ballsaal des Herrenhauses von
der fürchterlichen Schulvorsteherin selbst gegeben. Es waren nur fünf
Schülerinnen anwesend, und so bekam jede von ihnen die volle individuelle
Aufmerksamkeit.
"Haltung“ kündigte Madame Dorozhkina an, "ist die wichtigste der Künste, die Sie
bei La-Maison-des Poupees lernen werden. Und in Ihrem bedauerlichen Fall,
Justine, werden wir mit den einfachen Übungen des anmutigen Gehens beginnen
müssen. Ihre Haltung ist entsetzlich!"
Sie wählte ein schweres Buch aus und legte es auf den Kopf des Mädchens. „Gehen
Sie, damit auf dem Kopf, fünf Mal um den Raum herum. Jedes Mal, wenn es
herunterfällt, heben sie es auf.“
'Das klingt einfach', dachte Arabella.
Sobald sie sich allerdings bewegte, fand sie ihre Einschätzung als völlig
falsch. Das Buch wollte nicht auf ihrem Kopf bleiben. Jedes Mal, wenn das Buch
herunterfiel, brauchte sie verdammt viel Zeit es wieder aufzuheben. Das
Herunterbeugen in dem äußerst engen und einschränkenden Korsett war nicht nur
schmerzhaft, es schien beinahe unmöglich zu sein. Einmal, als sie sich wieder
herunterbeugen musste, rutschte sie auf dem spiegelglatten Fußboden aus, und
verfing sich mit ihren hohen Absätzen in ihrer sie behindernden Kleidung.
Noch schwieriger als das Hinunter-Beugen, war das Aufrichten. Einige Zeit
versuchte sie es alleine, doch es klappte nicht. Schließlich musste Madame
Dorozhkina nach einer Magd klingeln, die sie wieder auf die Füße helfen sollte.
Für eine Weile, während die Schulvorsteherin die anderen Schülerinnen genau
beobachtete, welche den Knicks übten, umging Arabella ihre Probleme, indem sie
ihre Hände in Kopfhöhe hielt, um das Buch zu fangen, wenn es herunterfallen
wollte. Madame Dorozhkina bemerkte ihre neue Taktik. Sie war wenig beeindruckt
von dem Einfallsreichtum des jungen Mädchens.
"Eine Dame geht nicht mit erhobenen Händen herum!", brauste sie auf. "Ihre Hände
bleiben gefälligst an der Seite oder sind vorne gefaltet!" Dann packte sie
Arabellas behandschuhte Arme und führte sie auf ihren Rücken, wo sie mit einem
kurzen Seil zusammengebunden wurden. Jetzt konnte Arabella ihre Hände nicht am
Kopf halten, und jedes Mal, wenn das Buch fiel, musste sie geduldig auf ihre
Lehrerin warten, die dann zu ihr herüberkam, um es wieder auf ihren Kopf zu
legen. Folglich dauerte die einfachen Aufgabe, fünf Mal um den Raum
herumzugehen, über zweieinhalb Stunden.
Allmählich allerdings, verbesserte sie sich. Während bei ihrer ersten Umrundung
des Ballsaals das Buch alle drei oder vier Schritte herunter fiel, gelang es ihr
zum Schluss, eine Runde zu drehen, ohne das Buch zu verlieren. Madame Dorozhkina
war aber weit davon entfernt zufrieden zu sein.
"Solch undamenhafte Körperhaltung, Sie sind wirklich furchtbar, Justine. Und die
Länge ihrer Schritte sind zu groß! Eine Dame sollte immer kleine tänzelnde
Schritte machen, nicht wie eine Giraffe. Hmmm, halten wir fest, dass ich mich
Morgen vergewissern werde, dass Sie andere Unterröcke und Stiefel für die
morgige Unterrichtsstunde bekommen. In der Zwischenzeit müssen wir uns auf ein
paar wichtige Punkte über das richtige Sitzen konzentrieren."
Die folgende Stunde, in der Arabella von der Schulvorsteherin unterrichtet
wurde, sollte sie etwas tun, was sie eigentlich schon immer gemacht hatte. Nur
das sie es immer falsch tat.
"Nein, nein! Beugen Sie Ihre Knie, nicht die Taille, und halten Sie Ihren Rücken
gerade", schimpfte Madame Dorozhkina.
"Sie müssen anmutig sitzen, junge Dame, ich sagte anmutig, nicht wie ein
Flusspferd!"
Arabella wusste nicht, wie sich Flusspferde setzten, war aber um so sicherer,
dass sie es nicht so tat, wie ihre Lehrerin es von ihr wollte. Ungern gab sie
sich Mühe. Sie versuchte anmutig auszusehen, den Rücken gerade zu halten, nur
ihre Knie zu beugen und Herr über ihrer voluminösen Röcke zu werden, die immer
im Wege waren. Zu allem Unglück begannen ihre Füße jetzt wirklich, nach all den
Stunden, weh zu tun. Sie fühlte ihre fürchterlichen Stiefel, den grimmigen
Hunger und den Schmerz des engen Korsetts so stark war noch nie. Die anderen
Mädchen waren schon vor einiger Zeit gegangen, und Arabella war jetzt vollkommen
der Barmherzigkeit ihrer harten Lehrerin ausgeliefert. Diese war sehr penibel,
und vergewisserte sich, dass jedes Detail ihrer Haltung und Bewegung perfekt
war. Nach all den Strapazen verkündigte Madame Dorozhkina schließlich: "Gut ist
es noch nicht, aber es gibt eine Verbesserung. Sie können jetzt gehen Justine.
Morgen werden wir weiter an Ihnen arbeiten. Ihre neuen Stiefel und Unterröcke
sollten bei dieser Angelegenheiten helfen. Sie können auf Ihr Zimmer gehen!"
Die verdrossene Arabella ging zu ihr, knickste äußerst ungeschickt und ging
niedergeschlagen zurück zu ihrem Zimmer, in Erwartung einer armseligen Schüssel
von Sdorovoe Pitanye. Sie ging langsam ihren Weg durch die unzähligen Korridore
von La-Maison-des Poupees. Sie stolperte dabei immer wieder, und stieß gegen die
Wände. Ihr Antlitz offenbarte ein müdes, entmutigtes junges Mädchens, welchem
der Schweiß über den Wangen lief.
Arabella, ein zerschmettertes und hungriges junges Mädchen, setzte sich hin,
um ihr mageres Abendessen zu essen. Der kräftezehrende Körperhaltungsunterricht
hatte aus ihr den Rest ihrer verbliebenen Energie genommen, und sie hatte Angst
vor dem, was noch kommen sollte.
Was auch immer es war, dass würde sie erfahren, sobald sie ihre Mahlzeit beendet
hatte.
Svetelina reichte ihr einen Brief von Madame Dorozhkina. Besorgt öffnete sie den
Umschlag, nahm das Blatt Papier heraus und las, was ihre Schulvorsteherin
geschrieben hatte.
Justine
Die Zeit nach dem Abendessen, steht zu Ihrer persönlichen Verfügung im
La-Maison-des Poupees frei. Die Schülerinnen handhaben das auf vielfältigen
Weisen. Einige üben Klavierspielen, andere bleiben in ihren Räumen und wieder
andere hören abendliche Erzählungen unserer Lehrer, welche im großen Wohnzimmer
abgehalten werden. Eine andere Möglichkeit ist die, über den Tanzboden zu
gleiten. Als abschließender Hinweis sei bemerkt, dass Ihre vollständige
Kleidung, was auch immer Sie vorziehen zu unternehmen, nicht bis zur
Schlafenszeit, die um neun Uhr beginnt, verändert werden darf.
Madame Dorozhkina
'Gut, ist ja nicht so schlecht', dachte Arabella, welche noch mehr Unbill von
der Schulvorsteherin erwartet hatte. Überhaupt nicht schlecht, tatsächlich frei
verfügbare Zeit. Aber wie verbringt man sie? Sie mochte jetzt keine Tanzpraxis
mehr nehmen. Ihre Füße taten schon so weh genug, als dass sie diese noch mehr
strapazieren wollte. Normalerweise liebte sie Spaziergänge durch den Dschungel,
mit ihrem Vater auf der Jagd, in Raj, aber hier? Irgendwohin zu gehen in den
schweren, die Bewegung einschränkenden Kleidungsstücken, die nur Freude an einer
Marter erzeugten, nein, sie würde nicht spazieren gehen. Der Gedanke, im Raum zu
bleiben war verlockend. Doch was konnte sie überhaupt machen in ihrer beengenden
Kleidung? Einen Brief schreiben? An wem? Die einzigen Menschen, an die sie
dachte, waren tot. Nein, sie musste rausgehen, etwas unternehmen. So erhob sie
sich schwerfällig und ging niedergeschmettert den Korridor entlang zu dem
Hauptwohnzimmer, wo der Vorlesungsabend stattfand.
Die Lesung wurde von einem Monsieur Jospin abgehalten, der, wie Arabella später
herausfand, ein Mathematik Lehrer war. Er hatte weder eine laute noch eine
einfühlsame Stimme, aber der Vergnügungshungrigen Arabella Hetherington kümmerte
dies nicht. So erging es auch den anderen, etwa dreißig anwesenden Schülerinnen,
welche etwas mehr als die Hälfte der zwei Klassen der Schule waren. Dankbar
setzte sie sich, aufgrund ihres Korsetts kerzengerade, auf einem Mahagoni-
Stuhl.
Sie lauschte den Worten der Erzählung. Monsieur Jospin las die ‚Arabischen
Nächte’ in französisch vor. Arabella verstand im allgemeinen den Sinn der
Geschichte. Sie hatte gelogen, als sie Madame Dorozhkina sagte, sie könne kein
Französisch. Zwei Jahre lang hatte sie Französisch in Mumbai gelernt.
Sie trieb fort in eine Welt der Fantasie, Moscheen und orientalischen Palästen.
Eine Welt, ähnlich der ihren, wo sie einmal gelebt hatte. Einer Welt, weit weg
ihres gegenwärtigen traurigen Lebens. Oh, wie sie die ihres Lebens bedrohte
Scheherazade beneidete, und wie sie an eine magische Lampe kommen wollte, die
ihr drei Wünsche erfüllen würde. Sie wusste, worum sie bitten würde. Erstens um
nach Indien zu kommen, zweitens Madame Dorozhkina zu einer Justine-Puppe zu
verwandeln und drittens ihre Eltern zurückzubekommen.
Aber so war es leider nicht, und die Schlafenszeit kam viel zu schnell.
Überdrüssig stapfte sie die Treppen hinauf zu ihrem Raum, darauf hoffend sofort
in ihr Bett zu sinken und tief zu schlafen.