Kristin hätte ein oder zwei Schlaftablette nehmen können, aber sie tat es
nicht. Denn falls da irgendetwas Verdächtiges in dem hinteren Schlafzimmer vor
sich gehen würde, wollte sie es nicht verschlafen. Außerdem könnte es gefährlich
sein, besonders wenn es sich als blutrünstige Geschichte entpuppen würde.
Sie empfand das Bett bequemer als erwartet, obwohl es viel zu groß für sie
allein war. Bruce hatte sich geweigert sie zu begleiten, was sie ärgerte. Der
Raum sah endlich wirklich gemütlich aus, mit seinem Hochschrank und der schönen
Kiefernkommode. Ein Raum, in dem sie gerne einen Gast unterbringen, wo sie gerne
morgens den Gast mit einem Frühstückstablett in der Hand wecken würde. Sie
stellte sich einen Sommer- Morgen vor, mit lauter positiven Bildern.
Die Zeit schlich nur so dahin. Immer wenn sie das Licht ausschaltete, kroch die
Angst in ihr hoch, nahm ihr den Atem. Nach dem dritten Anlauf tat sie etwas, was
sie seit ihrem sechsten Lebensjahr nicht mehr gemacht hatte: Sie ließ die
Nachttischlampe an und versuchte dabei einzuschlafen.
Sie hätte schwören können dass sie nicht geschlafen hatte. Gegen vier Uhr
morgens war sie hellwach und starrte auf die Tür, welche sich öffnete. Sofort
war ihr Mund trocken und sie konnte kaum atmen. Sie konzentrierte sich. Das
Nachttischlämpchen war noch an. Sie kniff sich in den Arm. Es tat weh. Also war
das kein Traum. Eine ältere Frau, gekleidet in einem langen schwarzen Kleid mit
weißer Spitzenschürze, kam mit einer großen Öllampe in der Hand herein. Es sah
so aus, als wenn sie nichts zu tun hätte.
„Wer zum Teufel sind sie?“, fragte Kristin so grimmig wie möglich.
Die Frau in dem langen Kleid zeigte keine Regung, als wenn sie Kirstin weder
sehen noch hören konnte.
„Komm herein, Schatz“, sagte sie. „So ist es gut. Ich weiß dass es schwierig
ist, aber es ist ja nur für heute und sie müssen es nie wieder tun.“
„Schau mich an“, sagte Kristin und setzte sich kerzengerade im Bett hin. Sie
wollte nicht von der Frau ignoriert werden. „Das ist mein Haus, und wenn sie
denken dass sie einfach hier hereinspazieren...“ Sie verstummte und drückte sich
ihre Faust zwischen die Zähne um einen Schrei zu ersticken. Das Gemälde aus der
Halle war gerade durch ihre Schlafzimmertür geschritten.
Das war jedenfalls ihr erster Gedanke. Dann bemerkte sie, dass dieses Mädchen
lebendig war. Wie konnte sie lebendig sein, wenn sie vor fast einhundert Jahren
als junges Mädchen gemalt wurde? Dennoch war sie dort, lebensecht. Ihre lebhaft
braunen Locken waren nach hinten gebunden zu einem streng geflochtenen Zopf. Sie
trug einen Morgenrock und schritt anmutig, sehr gerade herein.
Kristin fühlte sich krank, sie konnte kaum atmen oder sich bewegen. Selbst ihr
Herz schien stehen geblieben zu sein. Sie konnte nicht flüchten. Das waren keine
Leute aus dem Dorf, welche ihr einen Streich spielen wollte. Das war eine andere
Art von Natur.
„Ich weiß dass ich mein Bestes geben muss“, sagte das Mädchen traurig. „Aber ich
glaube nicht dass ich es schaffen werde.“
„Ja, wir werden sie irgendwie schon hinkriegen“, sagte die ältere Frau mit
beruhigender Stimme. „Kommen sie, damit ich ihnen den Morgenrock abnehmen kann.“
Das Mädchen nickte und ließ sich ausziehen. Unter dem Morgenrock trug sie ein
Unterkleid, lange gerüschte Baumwollschlüpfer und ein Korsett, dass ihr eine
Sanduhrfigur formte, mit einer sehr schmalen Taille.
Kristin hatte niemals ein richtiges Korsett gesehen, und es faszinierte sie. Sie
stellte sich vor wie stark es die Figur des Mädchens zusammendrücken musste. Wie
es die junge Frau steif hielt, ihr den Atem nahm. Kristin ahnte was folgen
würde. Irgendwie half ihr das, denn ihr eigener Körper entspannte sich, sie
konnte wieder richtig atmen, zwar nicht so wie vorher, aber immerhin. Sie
fürchtete sich noch, war aber nicht mehr ganz so ängstlich. Keine der beiden
Fremden hatte sie bemerkt.
„Seine Eltern sollten mit ihm reden“, fuhr das Mädchen fort. „Ich bin immerhin
ein menschliches Wesen und wenn er... Löst du mein Korsett?“
„Ja, Evangeline, meine Teuerste. Haltet euch bitte am Bettpfosten fest falls ihr
zu fallen droht.“
„Du siehst was ich meine?“, redete das Mädchen weiter und stellte sich fast vor
Kristins versteinerten Körper an den Bettpfosten. „Ich habe so hart trainieren
müssen um ihn zu befriedigen, ich kann nicht mehr ohne Korsett stehen. Ich
brauche die Unterstützung. Das ist mir vollkommen ungeheuer.“
„Sie müssen ihre Pflicht tun“, sagte die ältere Frau, während sie hinter dem
Rücken des Mädchens herumhantierte. „Sie sind Sir Nimrods letzte Hoffnung. Er
kann diesen Ort nicht halten. Er kann das Geld mit keinem Darlehen
zusammenbringen. Er wäre gezwungen das Landgut zu verkaufen damit er seiner
Tochter die Mitgift finanzieren kann. Wollen sie dass die Familie das Gut
verlassen muss?“
„Nein, natürlich nicht“, sagte das Mädchen. Es gab ein lautes Geräusch, und die
Taille dehnte sich sichtbar aus, da das Korsett gelockert war.
„Oh, tut das gut! Wie ich mir wünschte das dies nicht sein müsste.“
Die ältere Frau öffnete die vorderen Verschlüsse des Korsetts und entfernte es.
„Wenn er nur einen Sohn gehabt hätte, den er sich so sehr gewünscht hatte,
dann...“
„Wir müssen das Leben nehmen wie es kommt. Der Tot ihrer Mutter, und dass er
niemals wieder geheiratet hat. Sie werden eines Tages die Lady des Landgutes
sein. Und dafür müssen sie alles tun.“
Sie nahm das graue Korsett fort, faltete es ordentlich zusammen und legte es in
eine Schublade.
Plötzlich bemerkte Kristin, dass ihr Fußknöchel, der nahe an dem Bettpfosten
lag, an dem sich das Mädchen festhielt, ganz weiß war. War es Angst, oder kam es
von der körperlichen Anstrengung aufrecht zu bleiben, oder von beidem?
„Nun denn“, sagte die ältere Frau, als sie etwas aus einer anderen Schublade
herausnahm und zu Evangeline hinüberbrachte, welche immer noch mehr am
Bettpfosten hing als stand.
„Hier ist ihr Hochzeitkorsett. Ist es nicht hübsch?“ Sie packte das Bündel aus
und hielt es hoch, damit es das Mädchen bewundern konnte.
Kristin, aufrecht im Bett sitzend, konnte im flackernden Licht der Öllampe alles
gut sehen. Das Korsett war sicherlich hübsch, aber auch ziemlich Furcht-
einflößend. Es war aus weißem Satin gefertigt. Der obere Rand war mit einem sehr
schönen Spitzenband verziert, und gerade geschnitten, sodass es genau bis zur
Hälfte ihrer Brüste reichen würde. Der Stoff war mit wunderschönen Stickereien
versehen. Kristin sah Blumen und Weinreben. Sogar die sechs Strumpfhalter hatten
Stickereien. Doch aller weibliche Flitterkram der Welt hätte es nicht sanft
aussehen lassen können. Sogar ohne jemanden darin, sah man die Form, welche der
Trägerin aufgezwungen werden würde. Das Korsett war steif wie der Brustpanzer
eines Ritters. Aber keine Rüstung war jemals so verlockend und anspruchsvoll
geformt. Unter den bezaubernden Stickereien verbargen sich mehrere Reihen
kräftiger Nähte, welche die eingenähten, breiten, kräftigen und gebogenen
Korsettstäbe, anscheinend Wahlknochen, andeuteten. Sie alle schienen sich im
Taillenbereich fast zu berühren. Die Form entsprach den alten Abbildungen,
welche Kristin schon einmal gesehen hatte. Es waren Kupferstiche oder Gemälde,
sogar Karikaturen waren darunter gewesen. Aber alle hatten eines gemeinsam: Es
war die perfekte Sanduhrfigur mit ausladender Brust, vollen Hüften und einem
reichlich gepolsterten Hintern, aber einer Taille, welche kaum dicker als ein
Seil war. Kristin war schockiert, denn sie erkannte dass das Korsett niemals
geschlossen werden konnte.
Aber das Mädchen sagte nichts. Sie stieß nur einen tiefen Seufzer aus und
blickte entsetzt drein. Die ältere Frau streichelte liebevoll ihre Wange. „Nicht
traurig sein, Kleines. Nur für heute, und dann ist alles vorbei.“
Sie öffnete die vorderen Schließen des weißen Satinkorsetts. Klick, Klick,
Klick...
Währenddessen sagte das Mädchen mit trauriger Stimme: „Es wird nicht vorüber
sein. Ich kenne Stanley Chandler, Nancy. Er hat einen schlechten Ruf. Jeder
Tanz, den er jemals gemacht hat, geschah immer nur mit dem Mädchen, welches das
engste Korsett trug. Es ist sein Ehrgeiz eine Frau mit einer kleinen Taille zu
heiraten und sie zu Tode zu schnüren.“
„Sie übertreiben, Evangeline.“
Nancy tadelte sie.
„Jetzt, den Bauch einziehen und den Atem anhalten bis ich vorne das Korsett
geschlossen habe.“
Evangeline nickte und atmete tief ein, sodass ihre Brüste unter dem Leibchen
anschwollen. Nancy legte ihr das Korsett um und begann es zu schließen.
Kristin war erstaunt als sie sah, wie leicht das nur leicht gelockerte Korsett
über Evangelines Taille geschlossen werden konnte.
„So. Das ist ein sehr langes Korsett“, sagte die ältere Frau. „Sie müssen also
sehr gut aufpassen. Denken sie immer daran dass sie ihr Becken nach hinten
drücken müssen, sonst drückt die Vorderschließe unangenehm gegen ihr Schambein.“
„Es wird unerträglich sein, was immer ich auch tue...“
„Schhh, schhh, schhh! Sie schaffen das schon.“ Nancy griff den unteren Rand des
Korsetts und zog einmal kräftig daran, um Sicher zu gehen dass das Korsett
richtig saß. „Sind sie bereit? Ich beginne jetzt mit der Schnürung. Danken sie
Gott dass dieses Korsett eine gerade Front hat. Es lässt sie leichter atmen. Sie
glauben ja gar nicht welche Mühe ihre Frau Mutter hatte, als ich sie in ihr
Hochzeitskorsett schnüren musste! Sie brauchen also nicht in Panik verfallen,
sonst werden sie Ohnmächtig. In Ordnung? Jetzt bitte ganz ruhig bleiben. Ich
weiß, dass es schwierig ist, aber sie müssen da durch. Sie stimmen mir doch zu?“
Evangeline nickte.
„Gut. Jetzt bitte ihren Magen einziehen und nicht mehr atmen, ich ziehe jetzt an
der Schnur. Ich ziehe jetzt die Korsettschnur langsam stramm. Ich fange an.“ Sie
hatte die langen Schlaufen der Korsettschnur an der Taille herausgezogen und um
ihre Hände gewickelt. Dann zog sie gleichmäßig. Die Korsettschnur glitt
geräuschvoll durch die Ösen, und das Korsett knarrte. „Und noch einmal. Bitte
nicht erschrecken und keine Angst. Denke daran immer ganz ruhig zu bleiben. Mehr
brauchen sie nicht zu tun. Und noch einmal... und...“
„Warte.“ Evangeline keuchte.
Nancy hörte auf an der Schnur zu ziehen, ließ aber nicht locker. „Ich möchte
keine Pause einlegen. Wir haben gerade erst begonnen. Je länger wir dafür
brauchen, desto schlechter werden sie sich fühlen.“
„Das ist es nicht“, sagte Evangeline atemlos. „Ich fühle mich furchtbar schwach.
Nancy, du weißt dass ich seit Tagen nicht richtig geschlafen und kaum etwas
gegessen habe, nur um in dieses Korsett zu passen. Ich glaube nicht, dass ich
noch länger meine Arme hoch... Ich kann nicht mehr stehen... brauche Hilfe...“
„Natürlich! Einen Moment. Ich muss nur die Schnur sichern.“ Sie machte einen
Knoten und ging dann zur Kommode. „Hier sind sie. Schnür- Hilfen. Ich hätte sie
früher herausholen sollen. Es sind furchtbare Dinger, nur dafür gedacht eine
wahrlich strenge Einschnürung zu unterstützen. Halten sie sich fest, gleich
helfe ich ihnen.“ Sie zog einen Stuhl heran und stellte ihn neben dem
Bettpfosten, während Kristin fast unbeweglich fasziniert zuschaute. Sie war sich
kaum noch bewusst dass sie existierte. Nancy stieg auf den Stuhl und band zwei
Schlaufen um Evangelines Handgelenke. Sie zog sie ganz stramm an. Dann band sie
die Handgelenke ganz weit oben am Bettpfosten fest. „So. Jetzt werden sie nicht
umfallen. Besser?“
„Ich danke dir.“ Evangeline lächelte gequält. Es schien ihr nicht zu gefallen.
„Nichts kann jetzt geschehen. Und sie wissen, dass wenn sie ohnmächtig werden,
ich sie nicht wieder aufschnüren kann. Sie werden hier hängen bleiben bis sie
sich wieder erholt haben.“
„Ich weiß es.“
„Gut. Dann viel Glück. Atmen sie ein.“ Und wieder begann sie zu ziehen.
Kristin hatte so etwas noch nie gesehen und konnte es sich nicht vorstellen. Sie
hatte den Film ‚Vom Winde verweht’ gesehen. Die berühmte Schnürszene vor dem
Barbecue war gegenüber dem Olympiareifen Kraftakt, den sie gerade sah, geradezu
ein Spaziergang. Nancy war offensichtlich sehr stark. Sie hätte genauso gut das
volle Netz eines Fischerboots alleine aus dem Wasser ziehen können. Dagegen sah
die Taille des Mädchens sehr zerbrechlich aus. Das ganze Bett bebte. Ja, Kristin
bemerkte sogar dass das Bett langsam von der Wand weggezogen wurde. Ein Bett,
das sowohl Kristin als auch Bruce nur gemeinsam an die Wand schieben konnten.
Sie machte sich langsam Sorgen um Evangeline und hoffte dass ihr nichts
geschehen würde. Jenes unmögliche Korsett legte sich langsam immer fester auf
die Taille des Mädchens. Immer stärker wurde der Druck. Das Wort ‚stramm’ schien
genauso unpassend zu sein, als wenn man das Meer ‚nass’ bezeichnen würde. Und
die Taille war noch lange nicht ausreichend geschnürt. Es war die schmalste
Taille, die Kristin gesehen hatte, als Nancy das Korsett hochhielt bevor sie es
dem Mädchen umgelegt hatte. Es fehlten aber noch fast fünf Zentimeter. Wäre das
möglich? Sie konnte sehen, wie hart es für Evangeline war. Das Mädchen stand mit
zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen, sichtbar blass, im flackernden
Licht der Lampe. Liefen da Tränen die Wangen herunter? Kristin betete dass
Evangeline durchhalten würde, dass sie es schaffen würde mit einer absolut
schmalen Taille den Mann zu beeindrucken, der sie eigentlich nicht verdiente...
„Halte durch!“, flüsterte sie. Dabei vergaß sie, dass die anderen beiden sie
möglicherweise nicht hören könnten. „Du schaffst es! Du schaffst es!“
Plötzlich war alles vorbei. Evangeline gab einen entsetzlich lauten stöhnenden
Laut von sich und hing kraftlos an ihren Handgelenken. Nancy ließ vor Schreck
die Schnur los, sodass diese wie Schlangen ganz von alleine durch die Ösen
glitten. Die Flamme der Öllampe flackerte hell auf und beleuchtete die blasse
Evangeline, welche an den Handgelenken hing und ohnmächtig wurde.
Totale Stille.
„Hallo?“, rief Kristin mit krächzender Stimme. „Wo seid ihr?“
Keine Antwort.
Ihr wurde übel. Kristin kroch im Bett herum und suchte die Nachttischlampe. Sie
leuchtete noch immer. Der Raum war plötzlich doppelt so hell wie vorher mit der
Öllampe. Da war niemand. Evangeline und Nancy waren fort, die Schlaufen hingen
nicht mehr am Bettpfosten und die Kommode, aus der Nancy das Hochzeitskorsett
herausgenommen hatte, stand auf der anderen Seite des Raumes. Es gab kein
Anzeichen dafür, dass sie jemals anwesend gewesen waren, außer eines. Das Bett
war wieder von der Wand gezogen worden.
Es war eine warme Nacht, aber Kristin saß auf dem Bett, die Bettdecke über den
Schultern, und zitterte.
Bruce war in den folgenden Tagen etwas irritiert über Kristin. Als er sie nur so zum Spaß fragte, ob es in dem anderen Schlafzimmer gespukt hätte, sagte sie: „Alles in Ordnung. Keine Vandalen, Einbrecher oder so.“ Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen. Sie hatte begonnen zwei Schlaftabletten vor der Schlafenszeit einzunehmen, und ihr Geschlechtsleben litt darunter. Keine spontane Erforschung ihrer Körper mehr in der Nacht. Sie schlief wie eine Tote. Außerdem engagierte sie sich nicht mehr so stark beim Aufbau des neuen Finanzprojekts. Sie verbrachte viel lieber die meiste Zeit im Freien und arbeitete im Garten. Ab und zu schaute sie heimlich zu dem Fenster, aus dessen Raum der nächtliche Lärm gekommen war. Sicher, sie schlief nun besser, und Bruce hatte niemals etwas mehr von den Geräuschen gehört. Außerdem fand er es nicht schlecht, denn jemand musste sich ja um den Garten kümmern. Allerdings war er der Meinung, dass die neue Beschäftigung nicht Kristins Intelligenz entsprach. Sie sollte nicht ihre Zeit nur mit Narzissen vertrödeln.
Kristin werkelte im Blumengarten herum. Sie schob eine alte Holzkarre vor sich her. Die Einwohner hatten ihr gesagt dass diese Karre von der ländlichen Oberschicht ‚Korb’ genannt wurde. Sie achtete darauf alles zu lernen, da sie das ländliche Leben genoss. Glücklicherweise wusste sie einiges über Pflanzen, und so hatte sie sehr viel zu tun um jeden Tag außerhalb des Hauses beschäftigt zu sein. Die Rosen waren zum Beispiel nicht einfach nur Blumen. Man musste sie intensiv pflegen.
Sie zog sich die Arbeitshandschuhe an, nahm eine Gartenschere, und begann zu arbeiten. Doch ihre Gedanken waren bei der Szene in dem hinteren Schlafzimmer. Grimmig sagte sie sich dass es nichts war, worüber sie sich Sorgen machen musste. Da geschahen nur Ereignisse aus dem letzten Jahrhundert, welche sich ständig wiederholten. Sollte sich doch das Mädchen zu Tode schnüren, wenn sie es wollte. Schließlich war sie ja schon lange tot. Das ging ihr alles nichts an. Schuld daran waren nur die Augen auf dem verdammten Bild. Diese Augen waren so gemalt, als wenn sie tief in ihr eigenes Herz schauen würden, um einen Kontakt herzustellen...
Da hörte sie ein lautes Geräusch, ganz in der Nähe. Es klang wie das laute
Rascheln eines Kleides. Dann vernahm sie einen lauten Seufzer, gefolgt von einem
dumpfen Aufschlag, als wenn jemand umgefallen wäre. Kristin sprang auf, als ob
sie von einer Biene gestochen worden wäre. Sie konnte nichts sehen, aber etwas
den Weg zurück, an einer großen Steinvase, wo sich vier Wege im Rosengarten
kreuzten, von dort kamen Geräusche als wenn jemand dort liegen würde...
Kristin lief es kalt dem Rücken hinunter. Sie sagte sich dass es nicht schlimmer
sein könnte als das, was sie in dem hinteren Schlafzimmer gesehen hatte. Sie
ließ die Gartenschere fallen und ging leicht benommen zu der Steinvase. Als sie
dort ankam und auf den Querweg schaute, sah sie ein Mädchen, das sie sofort
erkannte. Es war das Mädchen aus dem hinteren Schlafzimmer, das Mädchen von dem
Gemälde. Aber dieses Mal trug sie ihr Haar nach oben frisiert. Sie trug einen
cremefarbenen Rock, eine himmelblaue Seidenschärpe über ihrer sehr schmalen
Taille und eine lockere Bluse. Sie lag auf dem Rücken und ihre vielen weißen
Unterröcke sahen aus wie die schäumende Brandung am Strand. Ihr Kopf und die
Arme bewegten sich leicht, aber ihre Augen waren halb geschlossen und es war
offensichtlich dass sie nicht aufstehen konnte.
Der Anblick von ihr erweckte Mitleid. Kristin blieb nicht stehen um
nachzudenken. Stattdessen beeilte sie sich und kniete sich neben dem Mädchen
hin. Sie hob das Mädchen hoch. Dabei gab es ein lautes knarrendes Geräusch, und
Kristin bemerkte wie steif das Mädchen war. Unter der locker aussehenden
Kleidung war sie in einem eng geschnürten Korsett eingesperrt. Sie war steif wie
ein Besenstiel. Kristin war erstaunt wie schmal die Taille war. Sie konnte sie
fast mit ihren kleinen Händen umgreifen. Wie konnte ein Mensch das nur
überleben? Sie war doch viel zu eng geschnürt! Allerdings sah es so aus, als
wenn es ihr nicht all zu viel ausmachen würde.
Kristin versuchte das Mädchen vom Kiesweg herunterzuziehen, um es auf dem Rasen
bequemer hinlegen zu können. Das ging aber nicht so leicht, denn die Beine des
Mädchens schienen teilweise ebenfalls in dem Korsett zu stecken. Kristin
erinnerte sich an ihren ‚Erste- Hilfe- Kurs’ und wollte eine Mund- zu- Mund-
Beatmung machen. Doch zunächst musste sie den Mund des Mädchens öffnen, um zu
überprüfen dass die Zunge nicht den Rachen versperrte.
Nach nur kurzer Zeit bewegte das Mädchen den Kopf und stöhnte leise. Das musste
ein gutes Zeichen sein. „Hallo?“, rief Kristin. „Geht es ihnen gut?“
Ohne die Augen zu öffnen murmelte das Mädchen leise: „Mein Korsett... zu eng...
niemals 35 Zentimeter... ihr gesagt... ihr...“
Kristin hörte auf dem Kiesweg Schritte näher kommen. Sie sprang auf und drehte
sich um. Da war aber niemand. Und als sie sich wieder zurück drehte, war auch
das ohnmächtige Mädchen fort. Der Kiesweg, der vorher geharkt worden war, war
nun unordentlich und Kristin sah die Schleifspur, wo sie das Mädchen zur Seite
des Weges gezogen hatte. Ihr wurde schwindelig. Sie musste sich an der Steinvase
festhalten. Dann ging sie langsam zu dem Beet zurück und versuchte sich auf ihre
Arbeit zu konzentrieren. Dann beschloss sie dass sie genug getan hatte und ging
zum Haus zurück. Dabei schaute sie sich immer wieder um.
„Kristin? Was ist eigentlich los?“
„Hmm? Nichts.“
„Du flunkerst mich an.“ Bruce seufzte und schaute sich seine Freundin genauer
an. Sie war ganz blass, ihr Gesicht hatte keine Farbe mehr. Und schlank war sie
geworden, richtig mager. Sie aß kaum noch und war ständig nervös. Was Bruce
allerdings am meisten beunruhigte war die Tatsache, dass sie sich nicht mehr für
das Auf und Ab an der Börse interessierte und keinen Profit mehr
erwirtschaftete.
Kristin seufzte ebenso. Sie kam zurück, von wo auch immer sie gewesen war, und
schaute ihn in die Augen. „Es ist nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.“
„Du schläfst nicht richtig“, sagte Bruce und zählte die Punkte an seinen Fingern
ab. „Dann isst du fast nichts mehr...“
„Ich bin auf Diät!“
„Du machst keine Diät. Ich kenne deine Diät. Jedenfalls zuckst du ständig
zusammen und interessierst dich nicht mehr für die Finanzmärkte. Du schaust dich
permanent um, als wenn du etwas gesehen oder gehört hast. Und ich bin mir
verdammt sicher dass da nichts war. Unser Geschlechtsleben ist auf dem Nullpunkt
angelangt. Du scheinst dafür keine Lust mehr zu haben.“
Kristin seufzte wieder. „Das tut mir Leid, Bruce. Ich leide wohl ein bisschen
unter dem Wetter.“
Bruces Finger glitten durch ihr dunkles Haar. „Mein armer Liebling. Es war ein
Fehler, hier her zu kommen. Wir könnten immer noch nach London zurückgehen, oder
irgendwo sonst auf dem Land.“
„Nein! Ich... Ich muss damit klar kommen. Ich muss es begreifen.“
„Ich denke nicht dass du Fortschritte machst, oder?“
Kristin schüttelte den Kopf.
„Vielleicht möchtest du einen Arzt aufsuchen.“
„Nein, Bruce. Ich bin nicht krank. Lass mich einfach in Ruhe, einverstanden?“
„Du kannst nicht erwarten dass ich tatenlos zuschaue wie du immer schwächer
wirst. Ich liebe dich doch! Glaubst du wirklich, dass ich nicht fühle wie du...“
Kristin sprang auf, sodass der Küchenstuhl laut auf den Boden fiel. „ES IST
GENUG!“
Bruce hörte auf zu sprechen und starrte sie an. Er war zu sehr erschrocken als
das er reagieren konnte.
„Bitte... hör auf“, sagte sie etwas ruhiger. „Lass mich einfach machen. Okay?
Lass mich... bitte in Ruhe.“ Sie drehte sich um und verließ die Küche. Die ganze
Zeit fühlte sie seine Augen in ihrem Rücken.
Sie wusste, dass er Recht hatte. Alles wurde nur schlechter, nicht besser. Der
Lärm in der Nacht ging weiter, und sie spürte, dass es eine Beziehungen zwischen
sich und dem Mädchen von dem Bild gab. Jenes Mädchen hatte gelitten, und
gewissermaßen litt auch sie. Kristin wusste irgendwie, dass nur sie selber das
Problem lösen konnte. Aber wie? Wie sollte man jemand helfen, der gestorben war,
als die eigene Großmutter geboren wurde?
Kristin hob den langen Rock an, den sie an jenem Morgen ausgewählt hatte, und
lief die Treppe hinauf in den ersten Stock. Dann ging sie die Galerie hinunter
zu der Seite des Hauses, um die Aussicht auf das Dorf zu genießen. Sie setzte
sich auf einen Stuhl neben dem Fenster hin und streckte ihre Beine aus. Der
Kirchturm war unscharf im Morgenlicht zu erkennen.
‚Vielleicht gibt es jemanden im Dorf, der mir helfen kann’, grübelte sie.
Schritte.
Sie versuchte es zu überhören. Vielleicht war es Bruce, aber sie wollte nicht
mit ihm reden. Vielleicht war es auch das Gespenst, und das konnte man
ignoriert. Sie schaute weiterhin aus dem Fenster hinaus und wollte nicht gestört
werden.
Die Schritte kamen näher und blieben hinter ihr stehen.
„Entschuldige“, sagte eine Stimme, die sie kannte.
Kristin drehte sich doch um. Es war das Gespenst. Sie sah es an, wie sie es
immer bei dem Bild tat, und das Gespenst blickte ebenso zurück.
„Ja?“, sagte sie.
„Also wirklich, das Benehmen der Zofen heutzutage!“, schimpfte das Gespenst. „Es
heißt ‚Ja, Miss’, und du solltest nicht in meiner Anwesenheit sitzen, und du
solltest einen Knicks machen wenn du mich triffst!“
Kristin hatte das Gefühl als wenn sie den Verstand verlieren würde. War sie etwa
irgendwie ins Neunzehnte Jahrhundert abgerutscht? Sie schaute hinüber zum Dorf
und entdeckte nach einem kurzen Moment der Panik die elektrische Umspannstation
hinter der Dorfkneipe, sowie einem Range Rover, der gerade auf den Parkplatz
fuhr. Da sie immer noch fest mit den eigenen Füßen in der Gegenwart stand,
konnte sie mit diesem Phänomen umgehen. Sie stand auf, machte ihren besten
Knicks, den sie bewerkstelligen konnte, und sagte: „Ja, Miss?“
„Du kommst mit mir. Ich habe eine Aufgabe für dich.“ Ohne ein weiteres Wort zu
sagen drehte sich das Mädchen um und schritt voran.
Kristin folgte ihr, allerdings sichtlich verwirrt. Das Gespenst hatte sie bisher
noch nie bemerkt. Es war bisher nur andersherum gewesen. Jetzt schienen sie
zweifellos in der gleichen Welt zu leben, und das erschrak sie. Wieder schaute
sie wie eine Besessene aus dem Fenster. Sie sah Autos, Satellitenschüsseln,
Strommasten, alles beruhigende Gegenstände. Sie war also immer noch in ihrer
eigenen Realität. Zwischen den Fenstern studierte sie das Gespenst.
Evangeline... Evangeline und was? Sie müsste bei den Dorfbewohnern den Namen
jener Familie erfragen. Jedenfalls war sie schön wie immer gekleidet. An jenem
Morgen trug sie das cremefarbene Satinkleid mit feinem Spitzenbesatz an den
Manschetten der Ärmel und am Saum des Rocks, ganz so wie auf dem Bild. Dennoch
war das Bild nichts im Vergleich zur Wirklichkeit. Das Kleid lag außergewöhnlich
eng an ihrem Oberkörper an. Der mit Spitzen verzierte Kragen reichte ihr bis
fast an die Ohren. Vorne drückte er unter ihr Kinn, fast so wie bei der
elisabethanischen Halskrause. Auf dem Rücken befanden sich über vierzig kleine
Perlmuttknöpfe. Der lange Hals, die langen Ärmel, sowie Satin und Spitze hätten
eigentlich die jungfräulichen Tugenden jener Oberschicht vermitteln sollen. Aber
das unglaublich enge Kleid wirkte eher sexy. Das Unterkleid presste ihre
Schenkel zusammen, sodass sie nur vorwärts kam, wenn sie verführerisch mit den
Hüften wackelte. Kristin, die solche Dinge früher schon mal gesehen hatte,
wusste anhand der Körperhaltung und Gehweise, dass das Gespenst auch Schuhe mit
hohen Absätzen trug, welche irgendwo unter den Massen der bodenlangen Unterröcke
verborgen waren. Das Kleid war sehr geschickt genäht worden, denn im
Taillenbereich gab es keine Quernaht, an der das Rockteil angesetzt wurde. So
wurde eine lange, kurvenreiche Form stilisiert. Selbst die Nähte sahen aus, als
wenn sie mit einer Nähmaschine genäht worden waren. Die Schneiderin musste eine
wahre Künstlerin gewesen sein.
Kristin überlegte: 'War das Gespenst lebendig? Könnte sie mit ihr darüber
sprechen? Immerhin benahm sie sich so als wenn sie lebendig wäre. Vielleicht
wäre das die Lösung?'
Das Gespenst ging voran, ihre Röcke rauschten verführerisch. Sie gingen über die
Galerie zum hinteren Schlafzimmer, wo sie jede Nacht in einem Korsett
eingeschnürt wurde um dann ohnmächtig zu werden. Sie öffnete die Tür und sagte:
„Komm herein.“
Kristin bekam eine Gänsehaut und wich zurück. Aber das Gespenst sagte verärgert:
„Ich sagte ‚Komm rein’! Ich kann nicht laut rufen wenn ich so eng geschnürt
bin!“
Kristin tat wie ihr befohlen wurde. Sie erkannte die Einrichtung von der dort
verbrachten Nacht kaum wieder. Das Zimmer war mit allerlei Gemälden und anderen
Gegenständen voll gestopft. Lediglich das riesige Himmelbett stand so wie sie es
in Erinnerung hatte. Das Morgenlicht strahlte durch die Vorhänge und ließ den
Raum freundlich erscheinen, aber das Gespenst sagte: „Ziehe die Vorhänge zu!“
Kristin beeilte sich die Anweisung zu befolgen.
Als die Vorhänge geschlossen waren, schien der Raum sie zu erdrücken und Kristin
hatte den Drang davon zu laufen. Doch sie hielt stand. Sie glaubte dass sie eine
wichtige Entdeckung machen würde.
„Fein“, sagte das Gespenst und ging zur Tür um sie abzuschließen. Den Schlüssel
steckte sie in einen kleinen Netzbeutel, der an ihrer Taille hing. „Also dann.“
Sie drehte Kristin den Rücken zu. „Knöpfe mein Kleid auf.“
Kristin trat näher und begann mit zitternden Händen zu arbeiten. Wegen der
geschlossenen Vorhänge konnte sie nicht sehen ob sie noch Verbindung zu ihrer
eigenen Realität hatte. Als sie das Gespenst berührte, hatte sie Angst in die
Welt des Mädchens zu wechseln.
„Sei sorgfältig, Zofe! Reiße keinen der Knöpfe ab, sonst wird es von deinem Lohn
abgezogen. Es sind echte Perlen, und sie haben Vater viel Geld gekostet, das er
nicht wirklich hat.“
„Ja, Miss“, sagte Kristin, da ihr sonst nichts anderes einfiel, und machte
weiter. Die Knöpfe waren klein, die Knopflöcher so schmal und das Oberteil lag
so eng an, dass es eine knifflige Aufgabe war es zu öffnen, ohne etwas zu
zerstören. Sie brauchte lange dafür.
„Beeile dich. Ich kann nicht den ganzen Tag warten“, sagte das Gespenst. „Du
willst doch nicht dass ich in deinen Armen ohnmächtig werde, oder?“
„Nein, Miss“, sagte Kristin. „Ich habe das noch nie getan. Ich bin nicht sehr
gut darin.“
„Das sehe ich! Offensichtlich bist du niemals die Zofe einer Dame gewesen, oder
man hat es dir nicht beigebracht. Tu dein Bestes.“
„Ja, Miss“, sagte Kristin und machte weiter.
Nachdem ungefähr einem Dutzend Knöpfe erreichte sie etwas Schwierigeres als die
Knöpfe, mit denen sie begonnen hatte. Als Erstes war da ein Band, diesmal in
schwarz, welches waagerecht über Evangelines Rücken verlief. Es drückte auf das
nach oben geschobene Fleisch. Dann gab es eine Schnur aus einem anderen
Material. Es verlief gekreuzt von unten nach oben und war durch sehr starke Ösen
gefädelt. Die Schnur war so stramm gespannt wie eine Klaviersaite. Kristin
dachte wieder an die furchtbare Szene, der sie in jenem Zimmer beigewohnt hatte.
Sie musste sich überwinden weiterzumachen. Es war bestimmt nicht richtig für
eine Zofe die Dame wegen etwas Intimes anzusprechen, aber...
„Verzeihung Miss, aber ich kann ihr... ihr...“
„Mein was? Mein Korsett? Natürlich kannst du. Glaubst du dass meine natürliche
Körperform wäre? Leider nein!“ Sie lachte bitter. „Das Korsett, Zofe, ist der
eigentliche Grund warum du dies tun musst. Fahre jetzt fort, und zwar schnell!“
Kristin tat ihr Bestes. Es dauerte noch einige Minuten bis alle Knöpfe bis zur
Hüfte geöffnet waren. Endlich war das komplette Korsett freigelegt. Es war ein
phantastisches Ding, erschreckend und faszinierend zugleich. Es bestand aus
schwarzem stabilem Stoff. Die aufgestickten Kirschblüten ließen es weiblicher,
weniger kraftvoll wirken. Aber dennoch war es offensichtlich schmerzhaft eng
geschnürt worden, von jemandem mit extremer Kraft. Evangeline war sich so
permanent der Einengung bewusst. Doch da waren noch weitere, kürzere
Schnürleisten seitlich der langen Rückenschnürung. Die in dem Korsett
eingenähten Korsettstäbe waren trotz der hohen Qualität auszumachen. Der
gespannte Stoff in Verbindung mit den Stäben formte die Taille so schmal, dass
es Kristin kaum für Möglich hielt. Normalerweise müsste es jede Person
umbringen, dennoch war sie da, die junge Dame des Hauses, nicht nur lebendig
sondern auch fähig zu gehen und zu sprechen und sogar zu streiten. Unterhalb der
Taille verbreitete sich das Korsett zu den Seiten, um Evangelines volle Hüften
zu greifen, zu formen. Kristin erkannte dass das Fleisch durch den Druck auf die
Taille nach oben und nach unten gedrückt wurde. Die unmöglich stramme
Korsettschnur war so weit aus dem Korsett herausgezogen worden, dass bestimmt
zwei Meter überschüssig waren. Die überschüssige Schnur war zu einem Knäuel
zusammengerollt und unten unter dem Korsett gesteckt worden. Auch die beiden
seitlichen Schnürleisten waren komplett geschlossen.
„Fertig?“, fragte Evangeline. „Hast du das Kleid endlich aufgeknöpft?“
„Ja, Miss.“
„Worauf wartest du? Schnür mich auf!“
Kristin zögerte.
„Was um Gottes Willen ist denn?“
„Ich bitte um Verzeihung, Miss.“ Kristin bemerkte dass sie sich langsam daran
gewöhnte. „Aber da sind drei Schnürleisten. Welche soll ich lösen?“
„Warum sind alle Zofen nur so dumm? Die Mittlere natürlich! Die anderen zwei
sind die Figurregler. Die habe ich nicht gemeint. Lockere jetzt das Korsett,
aber nur ein bisschen.“
Kristin zog das Knäuel von Korsettschnur unter dem Korsett hervor. Sie war
erstaunt wie lang die Schnur war. Schließlich erreichte sie den Knoten. „Äh,
Miss, da ist ein, etwas, ein Stück Strohhalm, er ist in dem Knoten
eingeflochten. Was soll ich damit machen?“
„Ah. Wie clever von ihnen, wie, wie hinterhältig! Ziehe es heraus und lege es
auf die Frisierkommode, Mädchen. Vergiss ihn nicht.“
Kristin tat wie ihr gesagt wurde.
„Gut. Du wirst ihn wieder in den Knoten einflechten wenn du mich wieder
einschnürst. Jetzt löse vorsichtig den Knoten und lockere das Korsett um zwei
Zentimeter. Nicht mehr!“
„Ja, Miss.“
Kristin hielt behutsam die Korsettschnur fest und zog an dem Knoten, der die
Schnur sicherte. Zuerst geschah nichts. Der Knoten war so fest angezogen, dass
er sich nicht lösen ließ. Kristin zerrte an der Schnur, dann noch mehr. Und
plötzlich geschah es. Der Knoten war gelöst, die Schnur frei. Die starke
Spannung des Korsetts ließ die Schnur durch die Ösen flutschen. Kristins Hände
wurden gegen den Rücken des Korsetts gedrückt. Dann fing die Korsettschnur an
durch ihre Finger zu gleiten. Evangeline ächzte, und das Korsett ächzte mit ihr.
Voller Panik kämpfte Kristin darum, wieder die Schnur in den Griff zu bekommen.
Sie verbrannte ihre Finger, aber unter großer Anstrengung gelang es ihr die
Schnur zum Halt zu bringen. Ihre Hände brannten fürchterlich. Sehr vorsichtig
begann sie das Korsett zu sichern.
„Mein Gott, das ist besser“, sagte Evangeline und lachte. „Ich danke dir. Weißt
du, heute kommt ein Künstler, der mich in Öl malen soll. Vater ist der Meinung
dass ich dafür mein engstes Korsett tragen soll.“
Sie drehte sich mit laut rauschenden Röcken um. „Und dein Name ist?“
„Kristin, Miss.“
„Kristin? Welch komischer Name! Ich denke dass wir dich besser Mary Ann nennen.
Gut, Mary Ann, vielen Dank für das Lockern meines Korsetts. Ich war kurz davor
ohnmächtig zu werden.“
„Wirklich, Miss. Sie müssen sich sorgfältiger damit bewegen.“
„Ich bin sorgfältig, glaube mir. Ich tue mein Bestes, aber wenn du jemanden
versprochen bist, der will dass du 35 Zentimeter erreichst, kann man nicht
vermeiden ohnmächtig zu werden.“
„35 Zentimeter, Miss?“
„Oh ja. Sie haben mein Hochzeitkorsett schon bekommen. Du darfst es niemanden
sagen, aber ich habe Angst es anzulegen. Ich glaube nicht, dass ich es
bewältigen kann. Ich hoffe, dass Vater, vor der Hochzeit mit meinem Verlobten
darüber sprechen kann. Bis ich dann muss ich allerdings mein Bestes geben.“
Kristin war erschüttert. „Sie müssen es ihnen sagen dass es nicht geht, Miss!“
„Das ist nicht gut“, sagte Evangeline. „Sie würden nicht auf mich hören.“ Sie
streckte sich ein wenig, sodass das Korsett knarrte. „Du weißt doch wie es ist
eine schmale Taille zu bekommen, oder nicht?“
„Nein, Miss. Ich habe niemals ein Korsett getragen.“
Evangeline blickte sie schockiert an. „Niemals ein Korsett getragen? Dann lass
dich nicht von meinem Vater erwischen. Hm ja, du trägst merkwürdige Kleidung.
Rede mit Frau Chiddom meiner Zofe, und sie wird dir behilflich sein. Also, ich
will damit sagen, dass wenn du deine Taille reduzieren willst, dann musst du
trainieren. Du musst immer Korsagen tragen, Tag und Nacht, bis du deine richtige
Größe erreicht hast. Die Mühen werden immer schwieriger und schwieriger, je
kleiner die Taille wird. Und du wirst ohnmächtig werden. Ich kann kaum etwas
essen, und bekomme nicht viel Schlaf. Um ehrlich zu sein, ich fühle mich die
meiste Zeit unwohl. Das wirkt sich auch auf meine Laune aus. Ich bin sicher,
dass du das bemerkt hast. Ich entschuldige mich für mein Verhalten.“
„Ich habe zu danken, Miss“, sagte Kristin, mit einem weiteren ungeschickten
Knicks.
Evangeline lachte. „Aber nicht doch. Du warst sehr geduldig. Ich sollte also
nicht aufgeschnürt werden, egal was passiert. Deshalb der Strohhalm im Knoten.
Es wäre aufgefallen wenn ich das Korsett gelockert hätte. Und alleine hätte ich
den Strohhalm nicht wieder in den Knoten bekommen. Als ich dich traf, wusste ich
dass entweder ich oder das Korsett gewinnen würde. Ich musste es einfach
aufschnüren, oder ich würde ohnmächtig werden. Du hast mich gerettet. Wenn ich
dich nicht gefunden hätte, dann läge ich immer noch in der Galerie und hätte
warten müssen bis mir jemand die Schnur aufschneidet. Das tut furchtbar weh,
wenn ein so eng geschnürtes Korsett aufgeschnitten wird. Und wenn es hinterher
wieder auf das alte Maß geschnürt wird, ist es noch unangenehmer. So ist das
schon viel besser.“ Sie seufzte erleichtert. „Aber egal wie angenehm es ist. Es
kann nicht ewig dauern. Du wirst mich wieder schnüren müssen. Und sei
sorgfältig, falls du es noch nie gemacht hast.“
„Das werde ich, Miss.“ Kristin fragte sich worauf sie sich da eigentlich
eingelassen hatte, und ob sie je wieder heil aus der Geschichte herauskommen
würde. Immerhin hatte das Gespenst den Schlüssel von der Tür. Sie hatte nicht
den Mut mit dem Gespenst um den Schlüssel zu kämpfen. So folgte sie Evangeline
zu dem Bett, wo sich das Gespenst reckte und so hoch wie möglich an den
Bettpfosten griff. Dann, ganz wie in dem Film ‚Vom Winde verweht’, packte
Kristin die Schnur und begann zu ziehen.
„Autsch! Halt ein!“
Kristin stoppte, ließ aber nicht die Schnur los. Die Spannung war so groß, dass
sie sich in ihre Haut eingruben und sehr wehtaten.
„Ich merke dass du nicht weißt was du tun sollst. Ziehe zu den Seiten, nicht
nach hinten.“
„Seitwärts, Miss?“
„Die linke Korsettschnur nach links, und die rechte nach rechts ziehen. Breite
deine Arme aus. Dann geht es leichter und die Schnur gleitet besser durch die
Ösen.“
„Ja, Miss“, sagte Kristin und begann. Es war zwar leichter, aber immer noch eine
anstrengende Arbeit. Und je enger das Korsett geschlossen war, desto
anstrengender wurde es für Kristin. Sie war auch sehr um Evangeline besorgt. Das
Gespenst hatte offensichtlich Probleme. Ihre Atmung war sehr seltsam geworden.
Sie nahm so tiefe Atemzüge, wie es das Korsett erlaubte. Doch viel war es nicht,
was sie in ihre Lungen bekam. Dann begann sie bei jedem Atemzug zu stöhnen. Das
erinnerte Kristin an die nächtliche Szene im Schlafzimmer. Ihr wurde schwindelig
und fast rutschte ihr die Korsettschnur aus den Händen. Sie packte die Schnur,
zog aber nicht weiter daran.
„Was ist los?“, keuchte Evangeline. „Warum hast du aufgehört?“
„Ich bitte um Verzeihung, Miss, aber sie sahen so aus, als wenn sie sie nicht
wohl fühlen würden...“
„Natürlich fühle ich mich nicht wohl. Das ist aber egal.“ Evangeline verstummte
um nach Atem zu schnappen. „Du darfst dich nicht darum kümmern.“ Weiteres
Keuchen. „Ich halte das aus. Ich war schon so eng geschnürt als ich dich traf,
und“, weiteres Keuchen, „du kannst mich wieder enger schnüren. Nimm also keine
Notiz davon.“ Wieder keuchte sie. „Selbst wenn du meinst ich atme nicht mehr,
einfach weiter ziehen.“
„Was ist wenn sie ohnmächtig werden?“
„Dann lockere einfach wieder um zwei Zentimeter“, keuch, „öffne so weit wie
vorher. Aber nicht mehr als jetzt.“ Sie keuchte als ob sie einen Marathon
gelaufen wäre. „Das Riechsalz ist in der“, keuch, „linken kleine Schublade des
Waschtischs. Und jetzt ziehe!“
Kristin hatte keine Wahl. Sie zog, und zog, und zog. Immer heftiger, immer
stärker. Mit all ihrer Kraft zog sie so lange, bis sich die beiden Schnürleisten
fast berührten. Ganz so, wie Evangelines es ihr gesagt hatte. Als ihr fast die
Arme ausgerissen wurden, berührten sich die Schnürleisten. Ihre Taille war
wieder anmutig.
„Es ist vollbracht, Miss“, sagte Kristin und band einen Knoten. Die Schnur blieb
straff. Sie war froh, dass Evangeline nicht ohnmächtig geworden war, aber
dennoch war sie beunruhigt. Sie versuchte sich vorzustellen wie es sein müsste
in jenem Korsett zu stecken, diesem Druck ausgesetzt zu sein. Doch sie konnte es
nicht.
„Gut getan, Mary Ann“, keuchte Evangeline. Sie ließ ganz langsam den Bettpfosten
los, als wenn sie befürchtete jeden Moment ohnmächtig zu werden. „Du kannst
jetzt mein Kleid zuknöpfen und gehen.“
„Ja, Miss“, sagte Kristin mit einem weiteren Knicks. Sie erinnerte sich daran
dass Evangeline sie vor ihrer schlechten Laune im geschnürten Zustand gewarnt
hatte. Kristin begann die unzähligen Knöpfe zu schließen. Jene im Taillenbereich
waren nicht so leicht zu schließen. Vielleicht hatte das Korsett doch noch etwas
nachgegeben. Jedenfalls hatte Kristin ihre Mühe mit den Knöpfen. Schließlich war
sie wieder am Hals angelangt und stellte erstaunt fest wie eng der Kragen anlag.
Der Kragen hatte ebenfalls kurze Korsettstäbe! Das war ihr beim Öffnen gar nicht
aufgefallen. Schließlich war auch Evangelines langer und schlanker Hals
einbetoniert. Sie fragte sich ob der Hals genauso wie die Taille trainiert
wurde, wagte sich aber nicht zu fragen.
Evangeline schritt laut raschelnd zum Spiegel und bewunderte sich darin.
„Na also“, sagte sie sichtlich zufrieden. Allerdings war sie nicht fähig sich
von hinten betrachten zu können. „Bin ich nicht schön?“
„Das sind sie, Miss“, sagte Kristin.
„Und ist das nicht ein hübsches Kleid?“
„Es ist, Miss.
„Und hast du jemals eine Person mit solch einer bemerkenswerten Figur gesehen?“
„Um ehrlich zu sein, nein, Miss.“
Evangeline lächelte. „Ich danke dir, Mary Ann. Das vergütet ein bisschen das
Unbehagen dieses furchtbare Korsett zu tragen.“ Sie holte den Schlüssel aus dem
Täschchen und schloss die Tür auf. „Und jetzt, Mary Ann“, sagte sie gnädig,
„kannst du gehen!“
„Vielen Dank, Miss“, sagte Kristin und lief.
Sie rannte aus dem hinteren Schlafzimmer hinaus, über dem Korridor an dem
Fenster vorbei, wo alles begonnen hatte, die Treppen hinunter, nach hinten bis
zur Küche. Besorgt fragte sie sich ob sie eine Küche aus jener Zeit, oder eine
moderne Küche vorfinden würde.
Es gab einen Mikrowellenherd!!! Sie rang nach Atem, Tränen standen in den Augen.
Sie lief zur Mikrowelle und umarmte sie wie einen alten Freund.
„Was um Himmels Willen tust du da?“, sagte eine Stimme.
Sie drehte sich um. Bruce saß am Frühstückstisch.
„Nichts, nichts!“, sagte sie und lächelte weinend. Dann lief sie zu ihm und
umarmte ihn.
Er hielt sie ganz fest, redete ruhig mit ihr, um sie zu beruhigen. Plötzlich
verkrampfte sie sich und rief: „Oh, nein! Ich habe vergessen den Strohhalm in
den Knoten einzuflechten! Sie wird in Teufels Küche kommen, wenn sie es
bemerken!“
„Wovon redest du?“, fragte Bruce. Er schob sie sanft weg und hielt sie auf
Armlänge, um den Grund ihres Verhaltens herauszufinden. „Liebling, ich glaube du
solltest wirklich jemanden aufsuchen.“
„Das werde ich. Ich weiß dass ich Hilfe brauche.“
Das schien ihn zu befriedigen, und er ließ sie los.
„Aber weder Arzt“, fügte sie hinzu, „noch ein Psychiater. Ich muss mit einem
alteingesessenen Dorfbewohner reden. Ich muss herausfinden was hier geschehen
ist, und wer Evangeline war.“