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Kapitel 26
Das Schloss ‚Tadmarsh Manor’ war seit Jahren unbewohnt, abgesehen von den kurzen Besichtigungen einiger Kaufinteressenten und Grundstücksmaklern. Das Sonnenlicht drang durch die hohen und verstaubten Fenster auf ein lebensgroßes Ölgemälde. Es hing genau gegenüber der großen Eingangstür. Ein junges Mädchen war darauf abgebildet, welches neben einem Stuhl stand. Eine Hand ruhte auf der Stuhllehne. Es schaute mit wehmütigem Blick über seine Schulter, als wenn es in der Ferne etwas suchte. Ihr Haar war braun und voller Locken. Ihre Augen glichen tiefen, glitzernden Seen und ihr Gesicht war sehr hübsch. Ihr cremefarbenes Kleid aus Satin war mit Spitzen verziert. Ihre Figur war einfach tadellos, entsprechend der Mode Ende des Neunzehnten Jahrhunderts. Sie stand dort, schaute scheinbar ins Nichts, seit mehr als neunzig Jahren. Die meiste Zeit war das Haus leer gewesen, und sie hatte nichts anzusehen gehabt. Das war teilweise ihre eigene Schuld.
Ein riesiger Schlüssel klapperte im Schloss, und unter lautem Knarren öffnete
sich die Tür einen Spalt, bevor sie blockierte. „Verdammt!“, sagte draußen eine
Stimme. Es folgte der dumpfe Laut einer gegen die Eichentür gestoßenen Schulter,
und die Tür ging auf. Ein etwa dreißig Jahre alter Mann fiel fast auf den
Fußboden.
„Mist! Es stinkt nach Staub hier drinnen!“
Er stellte sich wieder gerade hin und schaute sich um. Er trug einen teuren
Burberry- Mantel über einem teuren Stadt- Anzug, und sein Haar war der neuesten
Mode entsprechend frisiert. Er schlenderte durch die staubige Empfangshalle wie
ein Kohlenhändler durch einen Ballsaal, aber das kümmerte ihn nicht. Er war
stink- reich.
Er ging ein paar Schritte weiter und sah sich um.
„Hmm…Kristin! Komm herein! Hier ist alles voll gestopft mit Möbel! Ich wusste
gar nicht dass man so viel in ein Haus stellen kann!“
Auf dem Kiesweg vor dem Haus vernahm man Schritte und eine Frau kam herein. Sie
war ebenso edel gekleidet wie ihr Freund. Dennoch wirkte sie eleganter. Sie war
klein und von schmaler Statur, und unter ihrem Hut verbarg sich ihr
mittellanges, dunkelbraunes, lockiges Haar. Ihr Gesicht war hübsch. Mit
interessiertem Blick schaute sie sich um. „Ich bin aber immer noch der Meinung
dass es zu extravagant ist“, bemerkte sie.
„Unsinn! Wir können leicht dafür sorgen dass sich das Schloss von den Kosten her
selber trägt. Wir leben in den Achtzigern, Kristin. Eine schnelle
Internetverbindung, Satteliten- TV und Telefon, ein paar Garagen, und wir haben
unseren eigenen Finanzplatz, ohne die teuren Londoner Mieten zahlen zu müssen.
Es ist doch völlig unwichtig wo wir in der Welt sind, solange man Zugang zu
allen Informationen hat. Es gibt jede Menge reicher Leute im Umkreis, die von
uns beraten werden wollen. Allein das würde für den Unterhalt des kleinen
Schloss reichen. Wir kaufen es.“
Kristin ging durch die Halle. Es lagen keine Teppiche auf dem Boden. Das Echo
ihrer Absätze kam laut von den Wänden zurück. „Bis wir die ersten Hausgäste
haben, werden wir uns wie zwei Erbsen in einer Blechtrommel vorkommen“, sagte
sie.
„Wir können damit leben. Öffne das Haus nicht so schnell, fange erst mit ein
paar Räumen an. Ich möchte mir noch ein paar Optionen offen halten. Eine schöne
Empfangshalle wie diese, und unsere Kunden haben gleich eine bessere Laune. Ich
weiß dass das Zeug völlig verstaubt ist, aber wir werden alles Stück für Stück
säubern. Die meisten der alten Möbel scheinen noch hier zu sein.“
„Und die Bilder...“, sagte Kristin nachdenklich als sie nach oben ging. Sie
betrachtete das Bild mit dem Mädchen, das über neunzig Jahre an der Wand hing.
„Ja, ziemlich prächtig das da! Ist bestimmt wertvoll, auch wenn es nicht von
einem berühmten Künstler ist. Sehr dekorativ, wohl von einem Künstler aus der
viktorianischen Epoche.“
„Es ist nicht viktorianisch, Bruce, es ist Edwardian“, sagte Kristin, welche
nicht ihre Augen von dem Bild abwenden konnte. „Man erkennt es an der Kleidung.“
„Wirklich? Gut, ich verbeuge mich vor deinem überlegenen Wissen.“ Er verstummte
und stellte sich neben Kristin. Gemeinsam betrachteten sie das Bild.
„Das ist wirklich ein schönes Kleid“, sagte er schließlich. „All diese
Spitzen... und das auch noch von Hand gefertigt. Das muss selbst damals ein
Vermögen gekostet haben. Ich bin mir sicher, sie war die Tochter des Grafen, dem
das hier gehört hat, so Ende des Neunzehnten Jahrhunderts.“
„Ich denke, jemand wird es uns noch mitteilen“, murmelte Kristin und starrte
immer noch auf das Bildnis.
„Wahrscheinlich. Hübsches Mädchen. Natürlich schmeichelten die Maler immer
etwas.“ Er trat näher an das Bild heran und berührte das staubige Glas, welches
das Bild schützte. „Sie war niemals so gewesen, bestimmt nicht. Und ich bin mir
sicher, dass der Maler bei ihrer Taille geschummelt hat. Niemand hätte so wie
sie aussehen können, ohne das es irgendwo erwähnt worden wäre.“
Kristin kam ebenfalls näher. Das Bild hing so hoch an der Wand, dass sie gerade
mal mit den Fingerspitzen an die schmale Taille des Mädchens kam. „Wie kommst du
da drauf?“
„Tja, Schatz! Schau mal... ich meine, wenn das Bildnis eine Lebensgroße
Abbildung ist, dann dürfte ihr Taillenumfang nicht mehr als 37 Zentimeter sein!
Das ist unmöglich, sie wäre daran gestorben!“
„Ich weiß nicht...“ Kristin wurde ganz still und starrte fasziniert auf das
Bild. Schließlich sagte sie: „Du weißt wie hart sie damals gearbeitet haben um
sich in engste Korsetts einzuschnüren. Soviel wie wir wissen, hat es so etwas
gegeben. Wir müssten nur einige ihrer alten Kleidungsstücke finden, dann wissen
wir es. Es muss bestimmt noch etwas von jener Kleidung in irgendeiner Kiste
herumliegen. Ich habe so ein Gefühl, dass wir fündig werden.“
„Gut, wenn sie tatsächlich für ihr Bildnis in einem Kleid mit einer 37-
Zentimeter- Taille dort gestanden hat, dann ziehe ich vor ihr meinen Hut, wenn
ich einen habe.“ Er lachte lauthals los und ging weiter. Nach ein paar Schritten
bemerkte er, dass nur seine Schritte von den Wänden zu ihm zurück hallten. Er
blieb stehen und drehte sich um. Kristin starrte immer noch auf das Bild.
„Willst du den ganzen Tag dort stehen bleiben? Ich will jetzt einen Blick auf
die Haupträume werfen!“
„Sorry...“ Kristin trennte sich nur ungern von dem Gemälde und hastete zu ihrem
Freund. „Es... weißt du, es kam mir so vor, das Bild, als wenn... Also, die Art
wie sie einen anschaut... als wenn sie einen hypnotisiert. Weißt du was ich
meine?“
Bruce schaute sie an. „Dir in die Augen geschaut? Sie schaut die ganze verdammte
Zeit über ihre Schulter!“
„Ich weiß nicht, vielleicht interpretiere ich es auch falsch. Ich muss dennoch
herausfinden wer sie war. Ich spüre eine gewisse Präsenz, wenn ich vor dem Bild
stehe. So, als wenn sie wirklich anwesend wäre...“
Das wohlhabende Paar ging durch eine halboffene Tür und schloss sie hinter sich. Ihre Stimmen wurden leise, aber ein Aufschrei und Lachen deuteten darauf hin, dass Kristin etwas gefunden hatte, was sie amüsierte. Der sonnige Frieden kehrte in die Empfangshalle zurück.
Lautlos öffnete sich eine Tür. Ein hübsches Mädchen mit dunkelbraunem Haar in einem bodenlangen cremefarbenen Satinkleid, verziert mit edlen Spitzen, ging lautlos über dem Steinfußboden. Ihr Rock schwang verlockend. Sie hatte eine sehr schmale Taille. Vor dem Bild blieb sie stehen und blickte hinauf. Sie legte ihre Hände auf die breite Schärpe, welche ihre Taille umgab und verzog schmerzhaft das Gesicht. Dann gab sie einen leisen Seufzer von sich und ging fort.
Kristin erwachte aus einem unruhigen Schlaf und setzte sich in dem riesigen
Himmelbett hin. Sie blickte in die Dunkelheit hinein. Nichts war zu sehen, außer
die glühende LED- Anzeige des Weckers. Dann hörte sie es wieder: Eine weit
entfernte Tür schloss sich, leise Stimmen, Schritte. Sie rüttelte den neben ihr
schlafenden Mann wach.
„Bruce! Bruce! Wach auf!“
„Wassnlos?“
„Da! Es ist jemand im Haus! Hör doch!“
Beide lauschten. Natürlich war nichts zu hören.
„Da ist nix“, sagte Bruce und legte sich wieder hin.
Eine andere Tür öffnete sich und schloss sich wieder. Diesmal nicht sehr weit
entfernt. Ein paar Schritte waren von dem Korridor zu vernehmen. Kristin konnte
jemand sprechen hören, verstand aber nicht was. Sie zuckte zusammen und
schüttelte Bruce wieder wach.
„Bruce!“, zischte sie. „Da geht jemand!“
Laut raschelnd schob Bruce die Bettdecke weg und erhob sich.
„Was jetzt?“
„Hör doch!“
Sie lauschten. Weit entfernt wurde eine Tür geöffnet und schwere Schritte gingen
über dem Korridor. Kristin griff fast schmerzhaft nach Bruces Schulter.
„Du tust mir weh!“
„Da, so hör doch!“
Bruce drehte sich um und schaute in die Richtung, woher die Geräusche kommen
sollten.
„Ich höre nichts“, sagte er. „Du hast geträumt. Sei jetzt bitte still und leg
dich schlafen. Ich bin müde.“
Jemand ging über die Treppe, nicht sehr schnell, eher mit Würde. Kristin wollte
sich vor Angst verkrümeln.
„Du hörst es wirklich nicht?“
„Nein. Bitte, lass uns jetzt weiterschlafen! Wenn du Alpträume hast, dann lass
doch das Licht an, oder trinke heiße Milch, oder was weiß ich noch alles. Aber
ärgere mich nicht damit.“
Kristin machte die Nachttischlampe an.
Sie hatte schon befürchtet dass der Strom abgeschaltet worden wäre, und sie in
der Dunkelheit ausharren müsste, aber als das Licht anging, war es für ihr eine
Erleichterung. Sie seufzte und schaute sich in dem großen und ziemlich leeren
Schlafzimmer um.
Es war zu einer Zeit entworfen worden, als man noch eine große Dienerschaft
hatte, und Möbel groß und schwer waren. Also gab es dieses riesige Himmelbett
mit seinen vier großen Bettpfosten. Dennoch war das Zimmer halbleer. Der
Steinfußboden war zu sehen, weil die neuen Hausbesitzer noch keine Zeit hatten,
sich um Teppiche zu kümmern.
Sie schaute auf Bruce, aber er hatte die Bettdecke fast bis über dem Kopf
gezogen und wollte schlafen. Kristin fühlte sich zwar schwach, rutschte aber
dennoch von der Bettkante herunter und stand auf.
Stille.
Sie misstraute der vorübergehenden Stille. Kristin nahm eine Taschenlampe und
den schweren Schürhaken vom Kamin. Bruce konnte garantiert nicht bei dem Lärm
schlafen, tat aber so als wenn er tief und fest schlummern würde. Sie wusste,
dass es sinnlos wäre mit ihm zu streiten wenn er müde war. So ging sie so leise
wie möglich zur Tür und öffnete sie vorsichtig.
Das Licht im Korridor ging an. Gut. Alles sah aus wie zuvor. Aber ein Gefühl
sagte ihr, dass etwas nicht stimmte. Dennoch. Vielleicht hatte Bruce ja wirklich
Recht gehabt. Stille... nein, da tat sich was! Schritte, leise Schritte irgendwo
im Haus. „Bruce“, flüsterte sie und hoffte auf eine Antwort. Aber es kam keine.
Sie musste sich also selber um die Geräusche kümmern.
Sie ging voran. In der einen Hand die Taschenlampe, in der anderen Hand der
Schürhaken. Sie schaltete jede Lampe an welche sie finden konnte, denn je mehr
beleuchtet wurde, desto sicherer fühlte sie sich.
„Das können keine Einbrecher sein“, sagte sie zu sich selber. „Entweder wären
sie längst weggelaufen, oder hätten uns angegriffen. Sie würden nicht im Haus
herumlaufen, wenn ich all diese Lichter einschalte. Sie müssten längst wissen,
dass ich hier bin. Vielleicht sind es Handwerker, die zu später Stunde vom
Dorfkrug gekommen sind und jetzt bei uns weiter arbeiten wollen? Auf dem Land
geschehen ja die verrücktesten Dinge. Oder jemand will uns ärgern, weil wir
reich sind und aus London kommen, und jetzt randalieren sie herum. Dann sollte
ich besser wieder zurückgehen.“
Wieder Schritte.
Sie erstarrte, und sah für einen kurzen Moment wie jemand am Ende des Korridors
um die Ecke ging. ‚Es war eine Frau’, überlegte sie. ‚Eine ältere Frau mit einem
Tuch über dem Kopf.’ Mehr hatte sie nicht gesehen. Die Schritte waren sehr
leise, viel leiser als sie auf den hölzernen Fußböden hätten sein sollen, der
sich so kalt unter ihren nackten Füßen anfühlte. Dann kam es ihr in den Sinn.
Die Dielen sollten eigentlich laut knarren, wie es bei jedem ihrer Schritte auch
geschah. Warum aber nicht bei der anderen Person? Gab es in dem Haus ein
Geheimnis? Und falls dem so wäre, was war der Grund? Und warum machte man sich
solche Mühe nicht erkannt zu werden?
Kirstin sammelte ihren ganzen Mut und ging den Korridor entlang. Vorsichtig
schaute sie nach links und rechts. Da war niemand... sie wusste nicht wohin die
Unbekannte gegangen war. Da! Ein seltsam flackernder Lichtschein unter einer
Tür. Dahinter war eines der anderen großen Schlafzimmer, welche seit Jahrzehnten
nicht benutzt worden waren. Diese Zimmer lagen auf der Seite zum Garten. Sie war
am Nachmittag in den Räumen gewesen, um nach dem Rechten zu sehen. Alles war
verstaubt gewesen, und sie hatte das große Himmelbett wieder ordentlich an die
Wand gestellt. Sie hörte Stimmen. Sie schaltete das Licht im Korridor aus und
legte ihr Ohr an die Tür, um besser hören zu können. Sie hatte Angst die Tür zu
öffnen.
Sie hörte merkwürdige Geräusche, Möbel wurden verrückt, Stöhnen, und als wenn
jemand leise schimpfte. Kristin stand zitternd auf dem kalten Fußboden.
Plötzlich hörte sie jemand entsetzlich stöhnen. Das Licht unter der Tür ging
aus.
Genug der Heimlichkeiten. Kristin versuchte sich so gut es ging zu beruhigen.
Sie schaltete das Licht wieder ein und versuchte mutig auszusehen. Sie wollte
das Zimmer betreten. Etwas sagte ihr, dass die Tür abgeschlossen sein würde. Sie
packte mit zitternder Hand den Türknauf und drehte ihn um. Sofort sprang die Tür
auf, und sie machte das Licht an. Da war niemand! Sie sah sich um. Nichts. Fast
nichts. Sie war sich sicher, dass sie am Nachmittag das Bett an die Wand
gestellt hatte. Es stand wieder schräg im Raum! Das war nicht normal. „Nein“,
sagte sie zu sich selber. „Ich wollte es tun und habe es bestimmt vergessen.
Vielleicht hat aber auch Bruce das Bett verstellt.“
Aber wen hatte sie in dem Raum gehört? Und was hatte das seltsame flackernde
Licht zu bedeuten? Das waren schwierige Fragen, und das helle elektrische Licht
räumte sie nicht so einfach aus dem Weg. Sie ging entschlossen zum Nachttisch
und machte die Nachttischlampe an. Sie fühlte sich ein bisschen besser. Sie ging
zu dem Fenster. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, da niemand in dem Raum
schlief. Sie schaute hinaus. Es gab kein Zeichen für eine Leiter oder sonst
etwas. Abgesehen davon war das Fenster nicht geöffnet worden. Ohne Lärm ging das
nicht, denn es klemmte etwas. Am nächsten Tag würde sie nach dem Rechten sehen.
Jedenfalls hatte sie sich vergewissert, dass es keine Einbrecher und keine
Gespenster gab. Sie schaute sich noch gewissenhaft in dem Raum um und öffnete
den Schrank. Auch dort hatte sich niemand versteckt. Das Zimmer war leer.
Schließlich zwang sie sich die Lichter auszuschalten und kehrte zum Schlafzimmer
zurück. ‚Was auch immer’, dachte sie und war sich sicher dass es nicht wieder
geschehen würde.
„Ich habe es letzte Nacht wieder gehört“, sagte Kristin, nahm ihren Becher
Mokka und lehnte sich über dem Frühstückstisch. „Und als ich in jenes
Schlafzimmer ging, war das Bett wieder bewegt worden.“
Bruce raschelte genervt mit seiner Financial Times. „Ich habe noch nie was
gehört.“
„Ich weiß. Du hörst nichts. Dennoch bin ich mir meiner Sache sicher. Das war das
fünfte Mal. Da geht etwas vor sich.“
Bruce faltete die Zeitung zusammen und schaute seiner Freundin in die Augen.
„Schatz“, sagte er langsam. „Vielleicht hast du zu viel gearbeitet...“
„Fange nicht wieder damit an! Halte mich nicht für blöde! Ich bin genauso
intelligent wie du.“
„Du hast nicht viel Schlaf gehabt...“
„Was soll das. In der lauten Stadt habe ich auch gut geschlafen. Ich werde dem
auf den Grund gehen.“
„Wenn du willst“, sagte Bruce ganz ruhig und las wieder in seiner Zeitung. „Aber
an deiner Stelle würde ich mal zu einem Psychiater gehen.“
„Wie bitte?“
„Überleg mal, Liebling. Niemand ist in das Haus gekommen. Ich habe die
Alarmanlage überprüft, gleich nachdem du das erste Mal diese Geräusche gehört
hast. Alle Fenster und Türen sind verdrahtet. Ich habe die Empfindlichkeit so
hoch eingestellt, dass eine Spinne Alarm auslösen würde. Keine Einbrecher, kein
Randalierer, und ich habe bisher nichts von dem gehört was du mir erzählt hast.
Da darf ich doch ein wenig skeptisch sein, oder?“
„Ich habe meinen Verstand nicht verloren!“, sagte Kristin verärgert und hoffte
innerlich dass dem auch nicht so sei.
„Das habe ich niemals behauptet. Ich denke nur, dass du eine Pause brauchst,
und...“
„Bruce! Wir kamen hier her, um der Hektik der Stadt zu entfliehen! Und das hat
mir sehr gut getan. Du schläfst den Schlaf der Gerechten, und lässt mich machen
was ich will.“
Bruce faltete wieder die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. Das war
sein Zeichen von Interesse. „Was hast du vor?“
Kristin zuckte mit den Achseln und versuchte mehr nonchalant auszusehen. „Es
gibt nur eine Möglichkeit. Es geschieht immer im gleichen Raum, aber wenn ich
eintrete, ist da niemand. Also werde ich heute Nacht dort schlafen und dann kann
ich sie fangen. Wer auch immer sie sind.“
„Bist du dir sicher, dass dir nichts passiert?“
„Ich bin mir sicher. Ich habe ein handliches Rohr in einem der Seitengebäude
gefunden und es unter das Bett gelegt. Außerdem habe ich in London
Selbstverteidigungskurse absolviert...“
„Das habe ich nicht gemeint. Ist es sicher für dich? Ich will nicht morgens
aufstehen und dich in dem Zimmer zu Tode gefürchtet vorfinden, oder was auch
immer.“
Kristin schaute ihn treu ergeben in die Augen. Das war immer eine ihrer
wirksamsten Strategien, da ihre Augen sehr verführerisch blicken konnten, denn
sie hatte schöne dunkelbraune Augen. „Überleg mal, Liebling“, sagte sie. „Wenn
es Einbrecher sind oder Vandalen oder so, vertreibe ich sie mit dem Rohr.
Abgesehen davon dass vorher das Alarmsystem losgehen würde. Wenn es aber
wirklich nur Einbildung ist, ist es das Beste wenn ich mich meinen Ängsten
stelle. Du solltest stolz auf mich sein, und mich nicht ausschimpfen.“
Bruces besorgte Gesichtszüge entspannten sich und er lächelte. Er beugte sich
vor und küsste Kristins Nasenspitze. „Natürlich bin ich stolz auf dich,
Liebling“, sagte er. „Aber jetzt muss ich gehen. Ich lass noch einen Mann den
Generator checken. Wir dürfen nicht ohne Strom dastehen, wenn wir uns auf
elektronische Nachrichtentechniken verlassen müssen. Du kannst so lange
frühstücken wie du willst. Die letzten Nächte hast du wirklich wenig geschlafen.
Ruhe dich aus.“
„Danke, Schatz.“
Bruce drehte sich noch einmal an der Tür um und winkte ihr zu. Kirstin lächelte
zurück und aß dann ihr Müsli.
Das Lächeln hielt nicht lange. Eigentlich hatte sie nur gelächelt, um die Angst
vor ihrem Vorhaben zu verbergen. Tief in ihrem Herzen wusste sie verdammen gut
wer den Lärm in der Nacht machte. Es mussten Geister sein. Sie hatte Angst vor
einem Mann oder einer Frau ohne Gesicht. Mit der richtigen Einstellung, und dem
nötigen Kleingeld konnte man sich gegen fast alles wappnen, aber was sollte man
gegen Gespenster tun? Während der folgenden Stunden dachte sie sich viele
Szenarien aus. Sie glaubte, dass das hintere Schlafzimmer von einem
geistesgestörten Verwandten bewohnt worden war, der an das Bett gefesselt worden
war. Bei seinen Versuchen zu fliehen hatte er immer das Bett verschoben. Und
Nacht für Nacht hatte sie dann einen Diener gehört. Vielleicht aber hatte sie
den Mord an einer Frau gehört. Vielleicht war das Opfer das hübsche aber
traurige Mädchen auf dem Bild? Das Mädchen, dessen Augen immer tief in ihre
Seele zu schauen schien. Sie musste in dem Bett übernachten. Das war das einzige
was sie tun konnte. Vielleicht hätte der Schrecken dann ein Ende. Sie hoffte es
jedenfalls.