Latexdame Jannette moderne Korsettgeschichten

Das Korsett der Braut

von Stephen

Alle Rechte und weitere Nutzung beim Autor.

Übersetzung: Jannette

Kapitel Sieben

Kristin klopfte an die Tür und ging einen Schritt zurück. Sie war sehr nervös. Sie war sich nicht mehr sicher ob sie nicht doch verrückt geworden war. Sie suchte verzweifelt nach Beweisen dass die Dinge, die sie sah, keine Einbildungen waren. Andererseits hatte sie Angst davor. Das Mädchen, welches jeden Dienstag zum Putzen vorbeikam, hatte ihr gesagt, dass eine alte Dame, Frau Ellen Bowyer, Verwandte jener Familie war, welche zuletzt auf dem Landgut gelebt und gearbeitet hatte. Kristin verlor fast ihren Mut und hoffte schon darauf dass niemand anwesend wäre.
Nachdem es lange still war, hörte sie wie ein Stuhl auf dem Holzfußboden verrückt wurde. Dann näherten sich schwere Schritte. „Ich komme schon!“, rief eine derbe Stimme. Dann wurde ein Riegel aufgeschoben. Die Tür öffnete sich und eine Frau mit dünnem grauen Haar, weit über achtzig Jahre alt, erschien.
„Ja?“, sagte sie. „Ich hoffe, dass sie nicht versuchen mir etwas zu verkaufen, weil ich nichts an der Tür kaufe. Es gibt zu viele Ganoven heutzutage. Sind sie ein Ganove, he?“
„Nicht im Geringsten“, sagte Kristin. „Ich bin Kristin Campbell. Mein Partner und ich kauften das Landgut vor ein paar Monaten. Ich bin, äh, an der Geschichte des Landguts interessiert und habe gehört dass sie etwas darüber wissen könnten.“
Die alte Dame zuckte mit den Achseln. „Vielleicht“, sagte sie abweisend.
„Ja also... Was passierte zum Beispiel mit der Familie des alten Junkers?“
„Ausgestorben. Ende des Neunzehnten, Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts, kurz bevor ich geboren wurde. Die hatten nur ein Kind, und das war ein Mädchen. Man hatte für ihr noch eine gute Hochzeit geplant.“ Ihre Worte klangen hart. „Aber daraus wurde nichts. Das Mädchen starb bald. Die Landwirtschaft wurde weiterbetrieben und mit dem davon verdienten Geld wurde das Landgut finanziert. Das blieb auch so als ihr Vater starb. Aber niemand hatte jemals das Landgut gekauft. Bis sie kamen.“
„Warum hat es denn niemand gekauft?“
„Weiß nicht. Nicht modern, denke ich. Schwer zu heizen, und die üblichen Dinge. Jedenfalls hat es keinen guten Ruf.“
Kristin wurde hellhörig. „Was für einen Ruf?“
„Hab ich doch gesagt“, sagte Frau Bowyer mit einem ausweichenden Blick, als wenn sie Angst hätte als alte, verwirrte Frau dargestellt zu werden.
„Ich glaube nicht.“
„Ich werde nichts mehr sagen. Wer hat sie zu mir geschickt?“
„Nicky Bishop. Sie arbeitet für uns auf dem Landgut.“
„Alberne junge Kuh! Ich werde ein ernstes Wörtchen mit ihr... Ich denke wir beide sind fertig“, sagte sie und wollte die Tür schließen.
„Noch nicht“, sagte Kristin und stellte ihren Fuß in die Tür. „Was können sie mir über das Mädchen erzählen, das letzte der Familie?“
Frau Bowyer schaute sie sehr misstrauisch an. „Nur dass es eine traurige Geschichte war. Meine Großmutter hatte mir davon erzählt und gesagt dass ich mit niemanden darüber reden soll. Einige Dinge sollte man besser auf sich beruhen lassen. Gehen sie jetzt.“
Sie wollte wieder die Tür schließen.
„Einen Moment bitte! War der Mädchenname Evangeline?“
Fr. Bowyer ließ die Tür los und schaute hoch. „Wer hat ihnen das gesagt?“
Es war Zeit sich ihr anzuvertrauen. „Sie tat es.“
„Was?“
„Ich traf sie. Mehrere Male. Ein Gespenst, ich nehme dass ich eine Verbindung zu ihr habe. Ich sprach zu ihr. Sie sprach sogar mit mir, bat mich ihr zu helfen. Was ich auch tat.“
Frau Bowyer schaute sie entsetzt an. „Sie bat sie darum, ihr zu helfen? Wobei?“
Kristin seufzte. „Ihr Korsett zu lösen.“
„Oh.“ Sie überlegte. „Aha. Das ist natürlich was ganz anderes. Es ist besser wenn sie hereingekommen.“
Sie drehte sich einfach um und ging in die Wohnung zurück. Kristin folgte, vorher schloss sie die Tür. Kristin hatte erwartet eine alte Bauernkate vorzufinden, mit Petroleumlampen und gestickten Tüchern mit Schriftzügen wie: „Gotte segne dieses Haus“. Aber das kleine Wohnzimmer war ganz modern, mit einem Fernseher und elektrischem Licht, sowie einen gefährlich aussehendem Gasofen. Frau Bowyer ging zu einem hässlich grünen Sessel und setzte sich. „Nehme sie doch Platz“, sagte sie. „Wollen sie eine Tasse Tee? Das Wasser ist heiß.“
„Nein, vielen Dank“, lehnte Kristin höflich ab. „Was können sie mir sonst noch über Evangeline erzählen?“
„Es hängt davon ab, was sie ihnen gesagt hat“, antwortete die alte Dame.
Kristin freute sich innerlich. Ihr wurde geglaubt. Sie war also nicht wahnsinnig.
„Was haben sie von ihr gesehen?“
Kristin erklärte alles sehr genau, denn sie bemerkte dass Frau Bowyer sehr interessiert war. Als sie über das letzte Treffen sprach, wo sie Evangelines Korsett aufgeschnürt hatte um ihr eine Verschnaufpause zu geben, entspannte sich die alte Dame sichtbar.
„Ah, gut, ihr Herz sitz auf dem Rechten Fleck“, sagte sie und fuhr fort, „Sie müssen wissen, sie hatte eine furchtbare Zeit während der letzten Monate vor der Ehe, als das geschah.“
„Ich weiß es nicht“, sagte Kristin. „Das ist der Grund warum ich zu ihnen gekommen bin. Können sie mich aufklären?“
„Sie haben mit ihr gesprochen. Sie sind gewissermaßen Freundinnen geworden, da sie versucht haben ihr zu helfen. Sie sind sehr hilfsbereit.“ Frau Bowyer seufzte und versuchte sich in dem unbequemen Sessel bequemer hinzusetzen. „Wie viel wissen sie über die Familie, denn ich will sie nicht langweilen.“
„Nur was ich ihnen gesagt habe, und was sie mir gesagt haben.“
„Ich verstehe. Also, diese Familie hatte eine lange Tradition in dieser Gegend, aber darauf müssen wir jetzt nicht eingehen. Was sie wissen müssen ist, dass Evangeline um 1880 geboren wurde, und ihre Mutter bald danach starb. Ihre Eltern waren sehr ineinander verliebt gewesen, was damals nicht üblich war, und ihr Vater hatte nie wieder geheiratet. Seine Freunde hatten ihm gesagt dass das ein Fehler war, aber er war fest davon überzeugt, dass die Seele seiner Frau in seiner Tochter weiterleben würde. Man sagte dass sie sich sehr ähnelten. So wollte er nicht durch eine neue Heirat Evangeline seelisch verletzen. So war sie sein ‚Ein und Alles’.
„Ich habe das Portrait gesehen“, sagte Kristin. „Es muss ein Vermögen gekostet haben. Ein Zeichen dafür, dass sie ihm viel bedeutet hat.“
„Ja, so war ihr Vater. Er wollte nur das Beste für sie, aber er wollte auch das Beste für das Landgut. Sie müssen wissen, dass der Unterhalt des Anwesens sehr teuer war, und so ging es mit ihnen finanziell bergab. So blieb nur noch eines übrig: Er musste für seine Tochter eine reiche Familie finden, auch wenn diese nicht adelig war. Er konnte sie immerhin mit seinem Landgut beeindrucken. Seine Tochter würde es nach einer erfolgreichen Heirat bekommen und wäre darüber hinaus bestens versorgt gewesen.“
„Was hatte sie denn davon gehalten?“
„Ich habe sie niemals persönlich getroffen, denn sie starb bevor ich geboren wurde. Ich erinnere mich noch ein wenig an ihren Vater, aber das ist auch schon alles. Ich habe all diese Erzählungen von meiner Großmutter, müssen sie wissen. Sie kannte Evangeline sehr gut, denn sie war ihre Krankenschwester und Zofe. Nancy Chiddom, sie sahen sie einmal in dem hinteren Schlafzimmer.“
„Ja, ich erinnere mich dass Evangeline sie Nancy nannte.“
„Gut. Also, sie sagte dass der junge Herr Evangeline nicht sehr gefiel, und dass sie ihm auch nicht gefiel. Das Arrangement war zwischen ihren Eltern getroffen worden. Seine Eltern wollten den Titel, auch wenn er nicht viel bedeutete. Sie waren ‚Neureich’, wie sie es ausdrücken würden, und Sir Nimrod...“
„Wer?“
„Evangelines Vater, Sir Nimrod Gerattyng, der Baron. Sir Nimrod glaubte, dass sie die Rettung für das Landgut wären, das er nicht mehr finanzieren konnte. Ich glaube nicht, dass sie eine heimliche Liebe oder so was hatte. Sie wollte ebenso das Beste für das Landgut. Sie tat es ihrem Vater zuliebe. So hatte sie eingewilligt. Aber es war hart, sehr hart.“
„Also hat das alles damit zu tun, dass sie diesen Mann heiraten sollte“, riet Kristin.
„Ja. Sein Name war Stanley Chandler, nur zu ihrer Information. Evangeline war also bereit und willigte der Vermählung ein, aber nur ihrem Vater zuliebe. Der zukünftige Bräutigam wollte aber nicht. Er wollte ein hübsches prominentes Püppchen, eine mit der er auf Parties prahlen könnte. Evangeline war zwar sehr hübsch, aber eben vom Land. Hier draußen kleidete man sich halt nicht so wie in London, und das enttäuschte ihn. Er sagte seinen Eltern, dass er sie nicht nehmen wollte, außer wenn sie sich hübscher kleiden würde, um besser zu ihm passen zu können. Das sagten seine Eltern Sir Nimrod und er tat sein bestes. Er lieh sich von Freunden sehr viel Geld und schickte seine Tochter zu einigen Londoner Damenschneidern. Evangeline wurde der neuesten Mode entsprechend eingekleidet. Das muss der Mode- Stil von ungefähr 1893 gewesen sein. Dann wurde sie wieder ihrem Verlobten vorgestellt. Es half nichts. Seine Eltern fragten ihn nach dem Grund, und schließlich bekamen sie es heraus. Er wollte ein Mädchen mit der schmalsten Taille der Welt haben.“
Ein sehr wichtiges Puzzle- Teil des Rätsels war gelöst. „Ah“, sagte Kristin mit großer Betonung.
„Ja. Sie wissen was jetzt kommt, nicht wahr? Er wollte eine eng geschnürte Puppe. Sie wissen was das bedeutet, denn sie haben es in dem hinteren Schlafzimmer gesehen. Dieser Bastard bestimmte, dass er Evangeline nur heiraten würde, wenn sie ein Hochzeitkleid mit einer Taille von 35 Zentimeter tragen könnte. Können sie sich das vorstellen?“
„Ich glaube nicht“, sagte Kristin, und dachte an das, was sie in jener Nacht gesehen hatte.
„Nein, natürlich können sie das nicht. Aber sie sahen es. Ich hatte nie so etwas miterleben dürfen. Doch bedenken sie, das war nicht die einzige Szene... Es gab noch viel mehr Quälereien in jenem Haus, bis Evangeline starb. Das war ein paar Wochen nach dem Hochzeitstermin.“
Langsam lüftete sich das Geheimnis und Kristin ahnte was geschehen war. „Hatte das alles mit einen Korsett zu tun?“
„Sie sind ein scharfsinniges Mädchen. Ja, es hatte mit der Größe zu tun. Auch heute hungern sich Mädchen in ihr Hochzeitskleid hinein. Ich erinnere mich, wie meine Enkeltochter mir voller Grauen davon erzählte. Sie hatte eine strenge Diät gemacht, um in ihr Hochzeitskleid zu passen. Das ist aber nicht im Vergleich zu dem, was die junge Evangeline erlitten hatte. Natürlich musste sie auf einem Großteil der Ernährung verzichten, und das war Teil des Problems. Sie musste nach einer speziellen Diät leben, und in jenen Tagen hatte man davon noch keine Ahnung. Wenn man in einem Korsett sehr eng eingeschnürt ist, dann gibt es allerlei Probleme mit der Nahrung. Einige Lebensmittel sind leichter verdaulich als andere. Das kann zu schweren Komplikationen führen! Sie wissen was ich meine. Meine Großmutter hatte mir viel über jene Zeit erzählt. Es war eine ihrer schlimmsten Erzählungen, einer wirklichen lokalen Tragödie. Und es gab viele Ratschläge. Da war ein Buch, das Sir Nimrod von einem Quacksalber aus London bekam. Jener Arzt gab vor den Mädchen der höheren Gesellschaft helfen zu wollen die Figur zu verschönern. Zuallererst war da das Korsett. Viele Geschichten dieser Art hatte mir meine Großmutter erzählt. Sie legten ihre Korsagen nicht einmal beim Baden ab!“
„Aber das ist unmöglich!“, sagte Kristin schockiert.
„Es war wirklich unmöglich, Dummerchen, es war sogar lebenswichtig. Sie wagten nicht den Druck auf ihren Taillen für mehr als ein oder zwei Minuten zu reduzieren, da sonst der Körper wieder seine natürliche Form annehmen könnte. Wenn man sehr lange eng geschnürt gelebt hat, hat man das Gefühl nicht mehr ohne Korsett leben zu können, wie meine Großmutter mir erklärte. Man benötigt die stützende Wirkung des Korsetts. Sir Nimrod war in Kontakt mit einer in London lebenden Frau, welche eine Korsett- Manufaktur besaß. Sie hatte einen komischen Namen, Hessenschluss oder Pfaffenfurt oder so ähnlich. Diese Frau verschaffte ihnen alle Spezialkorsetts, die sie brauchten. Evangeline besaß wasserfeste Korsetts fürs Baden, Korsetts für den Tag und für die Nacht, sowie Korsetts für den Abend. Alle waren natürlich sehr eng.“
„Wie um alles in der Welt kann man dann noch schlafen?“
„Ich denke dass sie nicht viel geschlafen hat. Vergessen sie nicht, dass man in Eile war, denn der Hochzeitstermin war nicht mehr weit. Sir Nimrod befürchtete dass seine Tochter das festgesetzte Ziel, 35 Zentimeter, nicht rechtzeitig zum angesetzten Termin vom Sohn der Chandlers, erreichen würde. So drängte er seine Tochter. Sogar nachts wurde sie geschnürt, enger noch als die meisten Frauen tagsüber geschnürt waren. Das erzählte man mir jedenfalls. Ich erinnere mich, dass meine Großmutter sagte, die Nächte der armen Evangeline waren eine einzige Qual. Sie wachte immer auf und bat aufgeschnürt zu werden, und Oma musste sie trösten, ohne ihren Bitten nachzugeben. Ihre Korsetts zu lockern war strengstens verboten. Da war dieser Tag an dem sie für das Bild porträtiert werden sollte, was sie in der Empfangshalle gesehen haben. Das bedeutete natürlich dass sie ihr bestes Kleid, und das engste Korsett in das man sie hinein bekam, tragen musste. Sie gab sich viel Mühe dafür, und während einer der Sitzungen wurde sie ohnmächtig. Als meine Oma das Kleid öffnete, stellte sich heraus, dass jemand ihr Korsett geöffnet und wieder geschnürt hatte. Es war natürlich für sie sehr verlockend gewesen für eine Weile nicht so eng geschnürt zu sein. Aber das beeinträchtigte den Prozess eine sehr schmale Taille zu bekommen. Das hatte natürlich fürchterliche Folgen. Großmutter war letztendlich gezwungen härter gegen Evangeline vorzugehen, was sie wirklich nicht gerne tat. Evangeline war verboten worden dies noch einmal zu tun. Man sagte ihr auch den Grund. Die kurze Pause führte nämlich dazu dass sie ohnmächtig geworden war.
„Ich verstehe nicht wie sie wissen konnten dass ihr Korsett geöffnet worden war, wenn es doch eng geschnürt vorgefunden wurde“, sagte Kristin.
„Oh, sie hatten ihre Tricks. In jenem Fall hatte Oma einen Strohhalm in den Knoten der Korsettschnur eingewebt. Man hatte vergessen ihn wieder hinein zu tun. Sie hatte alle Mägde und Zofen zur Rede gestellt, aber nie herausgefunden wer es war...“ Ihre Stimme wurde ganz leise. Sie schien zu überlegen. Dann schaute sie Kristin ganz fest ins an. „Haben sie mir nicht erzählt, dass sie Evangeline trafen und aufschnürten, als sie das Kleid trug, mit dem sie gemalt wurde?“
„Das tat ich“, sagte Kristin. „Dann war ich diejenige gewesen. Ich dachte nicht, dass ich in ihrer Zeit herum pfuschte. Es war so schwer ihrer Bitte... zu widerstehen.“
„Hmmm. Ich denke, ich hätte an ihrer Stelle das Gleiche getan. Ihre Einmischung war so etwas wie ein Wendepunkt. Als Folgerung darüber, dass sie es herausgefunden hatten, wurde Evangeline, so sagte mir jedenfalls meine Großmutter, irgendwie schwächer. Sie ließ fast alles widerspruchslos mit sich geschehen. Ihre Lebensfreude verlor sich langsam. Andererseits vertrauten Oma und Sir Nimrod ihr nicht. Sie passten noch stärker auf, damit sie nicht ohne Genehmigung ihr Korsett lockern konnte. Ich schäme mich ihnen sagen zu müssen, Miss Campbell, dass meine Großmutter damit einverstanden war einen Gürtel mit einem Schloss um Evangelines Taille zu schnallen, damit sie ihr Korsett trotz fremder Hilfe nicht lockern konnte. Nur meine Oma und Sir Nimrod hatten die Schlüssel. Es waren schreckliche Dinge die sie taten, nur damit Evangeline hübsch aussehen sollte!“
Sie schwieg eine Zeitlang. Die Erinnerungen an Großmutters Erzählungen verbitterten sie.
Nach eine Weile sagte Kristin mit sanfter Stimme: „Erzählen sie mir bitte das Ende der Geschichte. Was geschah am Hochzeitstag?“
„Das wissen sie doch so gut wie ich, oder? Ja sogar besser als jeder andere. Sie haben es gesehen und ich nicht. Oma schnürte Evangeline früh morgens, und es verlief nicht gut. Evangeline hatte seit Tagen kaum etwas gegessen, denn sie wollte abnehmen. Sie hatte eine schlechte Nacht mit Alpträumen in dem engen Nachtkorsett hinter sich. Sir Nimrod hatte vorher mehrere Briefe und Telegramme an die Chandlers geschickt, mit der Bitte sich auf einen Taillenumfang von 37,5 oder 36 Zentimeter einzulassen. Aber seine Bitten wurden nicht erhört. Sie bestanden weiterhin auf die Abmachung. Ihr Sohn wollte eine Braut mit einem Taillenumfang von 35 oder gar nicht. Also zog Oma Evangelines Korsettschnur so fest wie möglich an. Das arme Kind musste an den Bettpfosten festgebunden werden um nicht umzufallen. Dann wurde sie ohnmächtig. Das geschah eigentlich bei jeder Einschnürung, aber diesmal brachte sie das Riechsalz nicht mehr zum Bewusstsein zurück. Sie riefen nach dem Doktor, und der Arzt ordnete an: Bettruhe, Tee mit Milch und Zucker, Rindfleischkraftbrühe, und kaum noch geschnürt sein. Sir Nimrod sagte aber: ‚Sie wird heute Nachmittag heiraten!’, und der Doktor sagte dass Evangelines Gesundheit durch die zu enge Schnürung ruiniert sei. Das waren seine Worte. Oma hatte es immer wieder erwähnt. Und der Arzt sagte noch: ‚Wenn ihr dem Mädchen keine Pause gebt, dann tötet ihr sie.’ So war Sir Nimrod in Schwierigkeiten. Letzten Endes beschloss er, dass ihm seine Tochter mehr wert war als sein Landgut und schickte einen Brief, damit die Hochzeit verschoben werden müsste. Der Sohn der Chandlers hatte nur darauf gewartet, um einen Grund für die Auflösung der Verlobung und Annullierung der Hochzeit zu finden. So blies er alles ab. Das war natürlich der finanzielle Ruin des Landguts. Die Chandlers fuhren nach London zurück, und Evangeline gab sich die Schuld für die Misere. Es ist schwer für eine moderne Frau, wie sie, das zu verstehen, aber die Mädchen in jener viktorianischen Ära wurden erzogen nicht an sich zu denken und das zu tun was man von ihnen forderte. Sie glaubte all jenen Müll. Sie glaubte, dass sie zu schwach war das zu tun, was ihr Vater von ihr verlangte. Und so fühlte sie sich dafür verantwortlich, dass die letzte Chance vertan war das Geld zusammenzubringen, was dringend benötigt wurde um das Landgut im Familienbesitz halten zu können. Und das nur weil sie es nicht schaffte jenes Korsett tragen zu können. Sie aß kaum noch etwas, und ihr Zustand verschlimmerte sich zunehmend. Als der Doktor versuchte sie mit einem Magenschlauch zu ernähren, war es schon zu spät. Sie verstarb einen Monat nach dem Tag an dem ihre Hochzeit stattfinden sollte.“

Stille.

Beide waren tief in ihren Gedanken versunken. Kristin war von der Erzählung wie betäubt. Sie hatte niemals geglaubt, dass sich eine solch tragische Geschichte hinter den Erscheinungen verbarg, welche ihren Schlaf gestört hatten. Natürlich machte das Sinn: Gespenster- Geschichten und Erscheinungen waren stets mit tragischen oder katastrophalen Todesursachen verbunden. Sie fühlte, wie sich Evangelines Kummer und Selbstzweifel wie ein Leichentuch auf das Anwesen gelegt haben. Sie wunderte sich nicht mehr warum man das Anwesen nach dem Tod von Sir Nimrod nicht verkaufen konnte.
„So“, sagte sie zögernd. „Was meinen sie, könnte ich machen?“
„Ausziehen.“
„Diese Aussage schockierte Kristin. „Warum?“
„Weil sie niemals Ruhe geben wird, das arme Mädchen, bis sie fühlt dass sie ihren Vater nicht enttäuscht hat. Aber das kann sie nicht, da sie und jener Taugenichts, für den sie all die Mühen auf sich genommen hat, seit langer Zeit tot sind. Jeder, der bereits das Landgut erwerben wollte, hat wieder ausziehen müssen. Ihr Ehemann muss ein sehr gefühlloser Mann sein wenn er das nicht bemerkt hat.“
„Er ist nicht mein Ehemann“, sagte Kristin, „aber er kann schon sehr unsensibel sein. Aber, Frau Bowyer, so kann es doch nicht bleiben. Ich will sie nicht für alle Zeiten in ihrem Unglück zurück lassen, ich will ihr helfen!“
Die alte Dame schaute sie ganz erstaunt an. „Wie? Wie können sie ihr helfen? Sie ist tot!“
„Ich weiß nicht, ich weiß es wirklich nicht, ich denke nur...“ Kristin strich sich ratlos mit der Hand durchs Haar. „Ich kann sie nicht einfach so zurück lassen. Wir haben etwas gemeinsam. Das ist wohl der Grund warum sie mit mir redet, warum ich immer wieder in ihre Realität eintauche. Ich bin sicher, dass es einen Grund dafür gibt. Wenn irgendjemand ihr jemals helfen kann, dann bin es ich.“
Frau Bowyer zuckte ratlos mit den Schultern. „Was erwarten sie? Ich kann jedenfalls nicht helfen. Ich bin kein Pfarrer! Wenn sie wollen dass sie von den bösen Geistern befreit werden, gehen sie zu ihm.“
„Dass wäre zu grausam, selbst wenn es funktionieren würde. Sie schadet doch niemand. Sie ist einfach nur unglücklich. Man kann ihr doch nicht die Schuld an der ganzen Misere geben. Ich würde wahrscheinlich auch so handeln, wenn ich unter jenen Umständen gestorben wäre. Ich möchte ihre Seele retten. Sie können mit keinen Tipp geben?“
„Tja. Schuld trägt eigentlich nur jenes verdammte Korsett“, sagte Frau Bowyer. „Ich denke dass sich ihre Kleidungsstücke immer noch irgendwo in dem Haus befinden. Niemand hat sich jemals die Mühe gemacht die Familienstücke wegzubringen. Das Korsett ruinierte ihr Leben, es besiegte sie, und gewissermaßen tötete es sie. Es würde mich nicht wundern wenn es noch da wäre. Vielleicht haben sie Erfolg wenn sie es finden und dann verbrennen. Vielleicht würde sie dann endlich in Frieden ruhen.“
„Nein“, sagte Kristin nachdenklich. „Ich denke nicht dass das der richtige Weg ist. Ich habe da eine Idee.“

Kapitel Acht

„Kristin! Wohin gehst du? Ich brauche heute Morgen deine Hilfe bei dem Internetserver...“
Kristin machte mit dem grauen Arbeitskittel und einen Hammer in der Hand einen beschäftigten Eindruck. „Kann das nicht warten?“
„Ich denke nicht. Bedenke, jeder Tag an dem wir nicht an den Börsen handeln, verlieren wir Geld. Und was um Himmels Willen hat diese abscheuliche Kleidung zu bedeuten?“
Kristin zog ein Paar grobe Arbeitshandschuhe aus den Kitteltaschen heraus und lächelte. „Ich gehe auf Schatzsuche.“
„Bitte was?“
„Mal sehen was ich so finde. Es gibt drei Dachböden auf diesem Landgut, und sie sind alle sehr groß, ideal um allerlei abzustellen. Dieses Landgut ist seit den Dreißiger Jahren unbewohnt geblieben. Und wie ich erfahren habe, wurde seit dem Neunzehnten Jahrhundert so gut wie nichts verändert. Niemand weiß, ob nicht vielleicht ein verschollener Van Gogh dort oben sein könnte. Du wirst mir noch dankbar sein, falls ich was Wertvolles dort oben finden werde.“
„Ja, aber das wirst du nicht“, sagte Bruce und zog sie an sich, um ihr einen Kuss zu geben. „Komm schon, Liebling. Wir haben diesen Ort ausgewählt, um einen modernen Handelsplatz aufzubauen. Stattdessen versinkst du in der Vergangenheit.“
„Ich weiß was ich tue, Bruce. Lass mich nur das hier zu Ende bringen. Danach werde ich dir helfen.“
Sie ging hinaus.
Sie wusste was sie tun musste, aber nicht wo sie beginnen sollte. Die Dachböden waren sehr groß, und wie immer wenn Räumlichkeiten jahrzehntelang als Abstellraum benutzt wurden, waren sie bis oben hin voll gestopft mit allerlei Ramsch. Es herrschte ein schreckliches Durcheinander. Das war aber nicht so schlimm, denn es lenkte sie ein wenig von der eigentlichen Tragödie ab. Alles was sie fand, stammte aus der Zeit von vor dem zweiten Weltkrieg, einschließlich der herumliegenden Zeitungen. Es war faszinierend. Unter einem Abdecktuch entdeckte sie ein wunderschönes Schaukelpferd, lackiert wie ein gescheckter Wallach. Das Pferdehaar schien echt zu sein. Als Kristin den naturgetreu dargestellten Kopf sah, wollte sie liebend gerne aufsteigen und los reiten, aber sie hatte Angst es würde unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. Immerhin würde man dafür sehr viel Geld bekommen. Voller Bedauern deckte sie es wieder ab und suchte weiter.
Gegen Mittag kam sie Staub- verschmiert vom Dachboden herunter, um schnell etwas zu essen. Danach eilte sie wieder nach oben. Erst gegen Abend fand sie auf dem dritten Dachboden, ganz hinten versteckt, eine Schneiderbüste mit einer sehr schmalen Taille. Dahinter stand ein Kleiderschrank. Die Tür war verschlossen, aber die unternehmungslustige Frau, mit Hammer und Werkzeug bewaffnet, konnte ihn öffnen. Laut knarrend ließen sich die Türen öffnen und offenbarten einen wahren Schatz, von dem sie nur geträumt hatte. Dicht an dicht hingen herrliche Kleider. In dem schwachen Licht sah es so aus, als wenn alles erst gestern hinein gehängt worden wäre, und nicht schon vor fast einhundert Jahren. Bei genauer Betrachtung stellte Kristin fest, dass die Kleidung neu sein musste. Es waren keine Spuren einer Abnutzung zu erkennen. Sie hatte das Gefühl, das dies Evangelines Aussteuer war, jene Kleidungsstücke welche für die Zeit nach der Hochzeit gedacht waren. Evangeline hatte diese Kleidung bestimmt nie gesehen. Aber danach hatte Kristin nicht gesucht. So schloss sie wieder den Schrank und suchte weiter.
Schließlich entdeckte sie im hintersten Winkel, als wenn es dort mit Absicht hingestellt worden wäre, eine riesige Kiste, groß wie ein Sarg und sehr schwer. Sie konnte die Kiste nicht einen Millimeter bewegen. Nur mit Mühe konnte sie das große rostige Vorhängeschloss brechen und den schweren Deckel anheben. Unter mehreren Schichten aus rosafarbenem Seidenpapier fand sie das schönste Kleid, das sie jemals gesehen hatte. Schon bevor sie es herausnahm wusste sie, dass es Evangelines Hochzeitkleid sein musste. Wegen der schlechten Beleuchtung konnte sie zwar nicht so gut erkennen wie schön es wirklich war, aber der zarte Stoff und das steife, mit Korsettstäben verstärkte Innenfutter fühlte sich großartig an. Der Stoff raschelte wie ein Wasserfall. Rüschen und Spitzen waren überall. Die Schleppe wollte nicht aufhören. Da kam ihr eine Idee... Sie öffnete das Kleid. Allerdings machte sie sich keine Hoffnung dass sie in das Kleid passen würde, da der Taillenumfang wahrscheinlich der Abmachung entsprechend 35 Zentimeter betragen müsste, wie es ihr Frau Bowyer gesagt hatte. Kristin hatte sich niemals versucht vorzustellen wie eine 35er Taille in der Realität aussehen würde. In jenem Moment wusste sie es, und es war unglaublich. Kein Wunder dass Evangeline damit nicht zurechtkam. Aber sie war kurz davor gewesen Erfolgreich zu sein, fast... Kristin entdeckte unter den Knöpfen zwei Reihen Schnürösen. Es hatte den Anschein, als wenn das Kleid ebenfalls ein Korsett war. Die zusätzliche Schnürung diente wohl dazu das Kleid wirklich stramm über der eng geschnürten Taille zu halten. Kristin löste die Korsettschnur und trug das Kleid vorsichtig zu der Schneiderpuppe, der sie es überziehen wollte. Mit großer Sorgfalt wühlte sie sich durch den Irrgarten Unterröcken, bis sie in der Lage war das Kleid über die Schneiderpuppe zu ziehen. Sie konnte zwar nicht alle Knöpfe schließen, aber sie spannte die Korsettschnur, bis das Kleid einigermaßen auf der Puppe saß. Dann trat sie zurück und bewunderte das Kleid.
Bewunderung war das, was es verdient hatte. Das war kein normales Hochzeitkleid. Es war ein Traum in Weiß! Es dauerte lange bis Kristin das wahre Ausmaß dieses edlen Prachtkleids einschätzen konnte. Kristin trat näher heran und entdeckte dass das Kleid, mit Ausnahme der sehr schmalen Taille, ihr selbst passen könnte. Das Dekolleté des Leibchens war fast unanständig freizügig, aber dünnes, transparentes Chiffon reichte bis zum Hals. Der Kragen glich einem Halskorsett, denn er war sehr steif und würde den Hals der Braut lang und schmal erscheinen lasen. Sie müsste den Kopf würdevoll aufrecht halten. Die Puffärmel reichten bis zu den Ellenbogen. Sie waren verziert mit künstlichen Blumen, die noch frisch aussahen. Die Puffärmel wurden an den Ellenbogen mit Zierbändern gesichert. Zusätzliche Rüschen sollten die Unterarme bedeckten. Kristin meinte dass die Ärmel zu kurz waren. Sie ging wieder zu der Kiste und fand erfreut unter einer weiteren Schicht aus Seidenpapier ein Paar jungfräulich weiße lange Glace- Lederhandschuhe. Sie trug sie zum Kleid und hielt sie daneben. Sie stellte sich vor wie tadellos sie aus den Ärmeln herausschauen würden. Aber die Schneiderpuppe hatte keine Hände, und so versuchte Kristin die Handschuhe selber anzuziehen. Sie waren allerdings sehr eng, und Kristin schaffte es nicht sich die Handschuhe anzuziehen. Doch sie empfand es nicht als hoffnungslos. Sie beschloss es später noch einmal zu versuchen, vielleicht mit Bruces Hilfe. Sie legte die Handschuhe vorsichtig bei Seite und ging zu dem Kleid zurück um es zu bewundern. Dort, wo der fast durchsichtige Chiffonstoff am Dekolleté entsprang, war eine unwahrscheinlich schöne Schicht Brüsseler Spitzen angenäht, fast wie ein Schal. Sie umgaben den Brustansatz. Zusätzliche weiße Rosen aus Chiffon verschönerten die edle Pracht. Kristin erinnerte sich an den geraden oberen Abschluss des Korsetts. Er würde soeben verdeckt sein. Natürlich betonte das Kleid die unwahrscheinlich schmale Taille. Hinten befanden sich unzähligen Perlmuttknöpfe. Kristin empfand dennoch die Taille unmöglich klein. Sie konnte sie fast mit ihren Händen umkreisen, obwohl das Kleid hinten nicht ganz geschlossen war. Sie schüttelte nur ihren Kopf und fragte sich wie man nur erwarten konnte dass eine Frau dieses Kleid anlegen konnte. Unter der unglaublichen Taille betonte der Rock die großzügigen Hüften der Schneiderpuppe. Aber die weiße Seide wurde mit anderen Schichten von edlen Spitzenstoffen bedeckt, damit das Kleid nicht zu sexy aussah. Der Saum des Rockes endete nur wenige Zentimeter über dem Boden. Dieser Spalt wurde mit einem Stoffband geschlossen, auf dem viele täuschend echt aussehende Stoffblumen aufgenäht waren. Hinten hing die schwere Schleppe aus dickerer Seide, welche ebenfalls mit sehr vielen Spitzen verziert war. Die Schleppe war 4,5 Meter lang und ebenfalls mit vielen Stoffblumen versehen. Es war wirklich das schönste Kleid, das Kristin jemals gesehen hatte. Und niemand hatte es jemals getragen. Vielleicht würde es auch niemand jemals tragen.
Ermutigt von dem Fund ging sie zu der Kiste zurück und durchsuchte das Seidenpapier. Sie entdeckte eine mit Draht versteifte Krone voller künstlicher weißen Seidenlilien, und dann einen großartigen Schleier, der die ganze Schleppe bedecken würde. Sie setzte es oben auf die Schneiderpuppe. Das sah natürlich nicht so schön aus, da die Schneiderpuppe keinen Kopf hatte. Weiter unten in der Kiste entdeckte sie Schürstiefelletten und vier Seidenunterröcke. Es waren unglaubliche Schichten aus steifen, Petticoat- artigen Röchen, welche wahnsinnig raschelten. Dann sah sie einen dunkelroten Karton. Auf dem Deckel befanden sich ein Bild sowie eine Beschriftung. Aber die kleine Schrift war nicht zu entziffern. Sie trug den Karton zu der nackten Glühbirne um die Schrift doch noch lesen zu können.
Das Bild stellte einen Damenkopf dar, welcher einen zufriedenen Ausdruck hatte. Die Dame hielt ihren Kopf in den Händen. Sie hatte eine kompliziert aussehende hochgesteckte Frisur, wie es damals üblich war. Ein Spiegel im Hintergrund des Bilds erlaubte ihre Rückansicht ebenso zu bewundern wie die Vorderansicht. Sie trug ihren Unterrock und ein Korsett. Ein Korsett von unglaublicher Strenge und Stärke. Ein Korsett, dass einen Dampfkessel davon abgehalten hätte zu explodieren. Ein Korsett, das ihr eine Taille verschaffte, welche kaum dicker als ihr Handgelenk zu sein schien.

Die Bildüberschrift verkündete:

Dr. Hassenpflugs Anatomisches Korsett (Patentiert)
Fördert die natürliche Form der Figur
Unser anatomisches Design ermöglicht das Tragen eines 5 Zentimeter engeren Korsetts, als bei der herkömmlichen Form, und das ohne übermäßigen Unbehagen, oder Ohnmachtsanfällen.

Unter dem Bild stand geschrieben:
Entworfen für eine spezielle Taillenreduzierung
Extra- stark, fünffach genäht, doppelt so starke Stahlstäbe, feste Schließe
Taillenmaß: FÜNFUNDDREISSIG ZENTIMETER

Es folgte ein Text mit sehr kleinen Buchstaben:
Dieses Korsett sollte nicht von unerfahrenen Gehilfen und nicht an untrainierten Figuren benutzt werden. Übermäßiges Schnüren könnte Verletzung an der Figur oder Schaden am Korsett verursachen. Für beste Ergebnisse benutzen Sie Dr. Hassenpflugs "Atlas", die extra starke Seidenschnur.

Das war es also: Dieses, wenn sie Recht hatte, war das Korsett, das sie gesehen hatte. Nancy hatte es so grausam um der armen Evangeline in dem hinteren Schlafzimmer geschnürt. Das war also das Korsett, welches ihr jene Mühen bereite. Das was das Korsett, welches Evangeline in die Verzweiflung getrieben hatte und warum sie verdammt war Nacht für Nacht die schwärzeste Stunde ihres Lebens zu erleben. Das war das Korsett, welches sie umgebracht hatte.
Kristin hatte plötzlich den Drang das Korsett in die hinterste und dunkelste Ecke zu werfen, und schreiend davon zu laufen.
Sie versuchte sich zu beherrschen, denn das Korsett würde nicht aus der Kiste herausspringen und sie zu Tode schnüren. Es war auch niemand da, der sie da hinein schnüren wollte. Sie befand sich immer noch in ihrem Haus am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts, nicht am Anfang. Sie schaute vorsichtig zu dem elektrischen Licht hinauf und beruhigte sich. Dann öffnete sie den Karton.
Zuerst fand sie wieder Seidenpapier. Dann kam das Korsett zum Vorschein. Mit zitternden Händen griff sie danach und zog es heraus. Es war schwer, und lang, und steif, aber gleichzeitig sehr elegant. Es gab keine Zweifel: Das war das gleiche Korsett, das sie in jener Nacht an Evangeline gesehen hatte, als sie darin so sehr litt. Kristin erkannte den eleganten Bogen des oberen Korsettabschluss, welcher mit zarten Spitzen versehen war, die zarten Stickereien auf dem Stoff, welche versuchten die unnachgiebigen stählernen Korsettstäbe zu kaschieren, sowie die sechs Strumpfhalter. Endlich hatte sie zumindest einen konkreten Beweis dafür, dass sie nicht verrückt war. Wie hätte sie wissen können wie dieses Korsett aussah, wenn sie noch nie auf dem Dachboden gewesen war?
Sehr behutsam lockerte sie die Korsettschnur und versuchte die Vorderschließe zu öffnen. Die Haken und Ösen der Vorschließe waren sehr steif, doch schließlich gelang es Kristin sie zu öffnen. Das Korsett war sehr steif und unnachgiebig, bereit sich um einen weiblichen Körper zu schlingen. Ein Blick auf die Innenseite zeigte mit welch liebevoller Sorgfalt es genäht war. Auf der rechten Taillenseite gab es einen rostbraunen Fleck. Kristin hoffte, dass es nicht Blut war. Sie schloss schnell wieder das Korsett und begann sich durch die Schichten aus Seidenpapier in der Kiste zu wühlen, um das Korsett dort zu verstecken.
Plötzlich berührte ihre Hand etwas, das nicht Seidenpapier war. Sie legte sehr vorsichtig das Korsett auf die Schleppe des Hochzeitkleids, damit es nicht schmutzig wurde, und kehrte zur Kiste zurück um zu sehen was sie gefunden hatte. Sie holte den Gegenstand heraus. Er bestand aus steifem, edlem Papier. Es war ein verblichener Umschlag aus jenen Tagen. Er war mit rotem Wachs versiegelt und vorne handschriftlich adressiert an ‚Sir Nimrod Gerattyng, Tadmarsh Manor’. Es gab keine Briefmarke. Zweifelsohne hatte der Umschlag in dem Karton bei dem Korsett gelegen. Das Siegel war gebrochen, und Kristin zog den Brief aus dem Umschlag heraus. Sie las:

„Sehr geehrter Her Baron,

In dem Karton befindet sich das Hochzeitskorsett Ihrer Tochter, entsprechend den Körpermaßen, welche Sie uns haben zukommen lassen. Dieses Korsett entspricht dem höchsten Standard meiner Firma, und ich habe persönlich die Fertigung überwacht. Allerdings muss ich noch einmal betonen, dass ich keine Verantwortung für die Ergebnisse übernehmen kann, wenn Sie Ihrer Tochter darin einschnüren. Eine Taillenreduzierung auf eine solch kleine Größe von 35 Zentimeter ist nur empfehlenswert nach einer sehr lang anhaltenden Eingewöhnungszeit. Allerdings muss ich aus Ihren Briefen entnehmen, dass Evangelines Figur niemals streng geschnürt war. Es besteht ein sehr großer Unterschied zwischen einer alltäglichen Taillenreduzierung und der von Ihnen gewünschten extremen Einschnürung. Aufgrund der von Ihnen festgelegten Maßen kann ich nur davon abraten. Das beiliegende Korsett ist wirklich stark genug die Figur zu ermöglichen, nach der Sie oder Ihre Tochter sich sehnen. Das Korsett hat hinreichende Kraft die Taille ihrer Tochter entsprechend den Messungen zu formen. Sollte Evangeline aufgrund von unklugen oder übermäßigen Schnüren körperlichen Schaden erleiden, muss ich Sie darauf hinweisen, dass weder ich, noch meine Gesellschaft dafür haftbar gemacht werden können. Ich muss Sie noch einmal davor warnen, denn eine solch extreme Figur- Ausbildung benötigt sehr viel Zeit und es ist sehr unwahrscheinlich dass Ihre Tochter es in dem von Ihnen festgelegten Zeitraum schaffen wird. Es könnte sehr gefährlich für die Gesundheit Ihrer Tochter werden. Wenn Sie sich allerdings an meine Ratschläge halten, wird mein Korsett Sie nicht im Stich lassen, und ich hoffe, dass sich Evangeline damit Wohl fühlt.

Mit freundlichen Grüßen, Elke Hassenpflug, M.D., Ph.D.

Hassenpflug Korsett- Company, London, W.”

Sie waren also gewarnt worden, jedenfalls der Vater. Aber was machte das für einen Unterschied? Kristin war sich nicht sicher. Sicher war sie sich aber darüber, dass sie noch niemals Kleidungsstücke gesehen hatte, wie die edle Aussteuer der armen Evangeline. Sie fühlte einen inneren Drang diese Kleidungsstücke zu tragen. Sie musste sie zum Leben erwecken. Viele Näherinnen hatten ihr Augenlicht bei den zart aussehenden Nähten und den Stickereien ruiniert, und nun hingen die Kleider seit fast einhundert Jahren in Vergessenheit im Schrank. Jemand musste sie tragen, ihnen den Sinn und Zweck zurückgeben und das vollziehen wofür sie gedacht waren: Eine Frau schön machen. Vielleicht lag ein Fluch darüber weil sie nicht getragen wurden? Vielleicht war das der Grund warum Evangelines Seele nicht zur Ruhe kam? Kristin wollte etwas unternehmen.
Sie brauchte eine lange Zeit um wieder aufzuräumen. Zuerst legte sie das Korsett in seinen Karton zurück und legte ihn wieder in die Kiste. Den Brief steckte sie allerdings ein, um ihn später noch einmal zu lesen. Dann löste sie die Korsettschnur des wunderbaren Hochzeitskleids und zog es vorsichtig von der Schneiderpuppe herunter. Es hatte ein enormes Gewicht aufgrund der Schleppe und der vielen Röcke. Es war extrem kompliziert ein derart kompliziertes Kleidungsstück einzupacken, und sie bezweifelte ob sie es schaffen würde ohne das Kleid zu beschädigen. Schließlich gab sie auf und hing es wieder auf die Schneiderpuppe. Dort erschien es ihr als sicherer. Außerdem bekäme es keine Knickfalten, welche später störend wären. Später? Wann? Bei einer Hochzeit? Wie kam sie darauf? ‚Das hat Zeit’, korrigierte sie sich. Aber dann kam ihr in den Sinn wie schön sie darin aussehen würde... Kristin schüttelte ihren Kopf, um die seltsame Ahnung zu verdrängen eines Tages in genau jenem Kleid selber zu heiraten. Schließlich war ihr eigener Taillenumfang 58 Zentimeter, und ihr Freund hielt nichts von der Ehe. Für ihn war es eine altmodische Tradition. So verpackte sie die vielen Röcke, die Schleppe und den Schleier zwischen dem Seidenpapier in der Kiste, und schloss den Deckel. Dann ging sie um das schöne Hochzeitkleid, sie musste dabei lächeln, herum zu der restlichen Garderobe, um die schönen Kleider zu bewundern. Nicht alle waren ungetragen. Kristin sah das Kleid, welches Evangeline auf dem Bild getragen hatte. Und da! Sie erkannte ein weiteres Kleid. Es war jenes Kleid, welches Evangeline getragen hatte, als sie im Garten ohnmächtig wurde. Es war weniger extrem als das Hochzeitkleid, aber nicht sehr viel weniger. Der Taillenumfang schien um die 40 Zentimeter zu sein. Das Kostüm, welches am wenigsten extrem war, hatte ein Taillenumfang von 48 Zentimeter. Es war aus Wolle und hatte eine taillierte Jacke. Das könnte vielleicht der Einstieg sein, aber trotzdem war der Taillenumfang noch weit entfernt von dem, was Kristin sich zutraute.
Kristin nahm wieder den Hammer in die Hand und zerschlug das Schloss einer weiteren Kiste. Sie hatte richtig geraten. Darin lagen noch mehr Kleidungsstücke, allerdings weniger aufwändige Sachen. Das war wohl der Grund warum sie nicht im Garderobenschrank hingen. Aber schön waren sie dennoch. Wieder sah Kristin jede Menge Spitzen, Stickereien und Seidenunterröcke. Außerdem lagen in der Kiste Handschuhe aller Längen, bis hin zu schulterlangen Handschuhen. Es gab Blusen, die so zart aussahen, als wenn sie jeden Moment zerreißen würden. Und dann entdeckte Kristin weitere Kartons mit der Beschriftung von Dr. Hassenpflug. Es gab also noch mehr Korsetts. Kristin holte die Kartons heraus und verglich die Beschriftungen. Schließlich entdeckte sie einen Karton mit der Beschriftung:

„Neuestes Mädchen- Trainings- Korsett. Für junge Damen geeignet, welche die modische Figur mit der kleinsten nur möglichen Taille bekommen wollen.“
Auf einem Zettel, den jemand von Hand beschriftet hatte stand: „50 Zentimeter.“

Das waren nur 8 Zentimeter weniger als Kristins Taillenumfang. Kristin überlegte ob sie es versuchen wollte!
Sie öffnete den Karton und zog das Korsett heraus. Es war viel schlichter als das verhängnisvolle Korsett, in dem Evangeline auf ihre Hochzeit vorbereitet worden war. Aber dennoch sah es beeindruckend aus. Die Tatsache dass es nicht so eng war wie das Hochzeitskorsett machte es weniger beängstigend. Es gab zwar viel weniger phantasievolle Dekorationen, aber die Korsettstäbe und die stabile Korsettschnur erinnerten sie daran wofür das Korsett bestimmt war: Die Figur einer Frau weiblicher machen, ohne sie zu quälen. Das Korsett war schwarz, und die Korsettschnur war überraschender Weise dunkelrot. Die Nähte waren akkurat genäht und machten einen stabilen Eindruck. Aber das Korsett sah fast abgetragen aus, und die Schnürösen sahen nicht mehr sehr stabil aus. Kristin hielt es an ihren Körper, über ihrem hässlichen Arbeitskittel, an. Ja, es hatte die richtige Länge. Die Büste und die Taille saßen perfekt. Die ganze Linie bis zu den Hüften schien ihr zu passen. Kristin beschloss es anzuprobieren. Sie hatte die Hoffnung es schließen zu können. Es wäre zwar eine schwierige Arbeit, aber sie musste es versuchen. Sie wollte all diesen wunderbaren Kleidungsstücke bezeugen, dass jemand existierte der ihrer würdig war. So hoffte sie dass die Seele von Evangeline ihre Ruhe finden würde. Kristin legte das schwarze Korsett in seinen Karton zurück, klemmte ihn unter ihren Arm, warf einen letzten wehmütigen Blick auf das königliche Hochzeitskleid und verließ den Dachboden.

Kapitel Neun

Kristin entschied nach langer Überlegung dass es am Besten wäre in dem hinteren Schlafzimmer mit ihrer Taillenreduzierung zu beginnen. Sie hatte so eine Ahnung dass Evangeline es mitbekäme dass sie Hilfe bekäme, wenn sie sich genau dort das Korsett anlegen würde. Das Schlafzimmer musste der geeignete Ort sein um die Aufmerksamkeit des Gespenstes zu erwecken. Kristin wollte jedenfalls nicht mit Bruce dort erscheinen. Sie war sich endlich gewiss dass sie nicht den Verstand verloren hatte, aber sie wusste auch dass es sehr schwierig werden würde ihn davon zu überzeugen.
Sie öffnete die Tür mit dem Ellenbogen und trat in das Zimmer ein. Dort ließ sie den schweren Karton und diverse andere Sachen auf das Bett fallen, welche sie von oben mitgebracht hatte. Sie hatte mehrere Unterröcke und andere Sachen mitgebracht, die viel hübscher und weiblicher aussahen als sie jemals besaß. Es würde ein schwieriges Unterfangen werden jene komplexen Kleidungstücke anzulegen. Sie wollte mit dem ‚Trainingskorsett’ beginnen, was den größten Taillenumfang hatte. Kristin fühlte dass es ausreichend sein müsste. Die vollständige Eleganz eines viktorianischen Mädchens würde sie aber nicht alleine bewerkstelligen können. Dazu bräuchte sie fremde Hilfe. Kristin wusste aber auch dass Bruce nicht die geeignete Person wäre. Vielleicht würde eines der Mädchen aus dem Dorf, welche in ihrem Haushalt tätig waren, ihr helfen. Jedenfalls brauchte sie Hilfe. Sie hatte keine Ahnung wie man jene alte Kleidung anziehen sollte. Außerdem kannte sie keine Person die sich mit Korsagen auskannte. Sie befand sich in einem Dilemma.
„Probieren geht über Studieren“, redete sie sich Mut ein und zog sich aus. Allerdings behielt sie ihren eigenen Slip an, denn sie fand den Gedanken den getragenen Schlüpfer einer fremden Frau zu benutzen als nicht sehr angenehm. Die restliche Kleidung, einschließlich ihres BHs zog sie aber aus. Sie wusste zwar nicht wie das Korsett ihre Brüste stützen würde, da es keine Cups hatte, aber sie hoffte es bei dem Experiment herauszufinden. Kristin köpfte das Unterkleid auf, es waren furchtbar viele Knöpfe. Kristin befürchtete dass das Korsett die Knöpfe tief in ihr Fleisch drücken würde. Dann betrachtete sie sich in dem leicht erblindeten Spiegel, wie es einst Evangeline getan hatte. Die Frisur stimmte nicht, außerdem sollte das Make-up entfernt werden, aber noch war es ein Anfang. Dann kam der knifflige Teil. Kristin öffnete die Vorderschließe und stellte sich vor dem Spiegel, sodass sie sich darin beobachten konnte. Sie schloss die vorderen Haken und Ösen. Als sie ein Drittel des Weges nach unten geschafft hatte, stoppte sie. Das Korsett ließ sich nicht schließen! Sie stöhnte laut auf und öffnete es wieder. Was nun? Natürlich! Die Korsettschnur! Die hintere Schnürung war ja noch geschlossen! Kristin versuchte den Knoten zu lösen, was eine knifflige Angelegenheit war. Schließlich war er auf und sie lockerte die Korsettschnur, um den Taillenumfang des Korsetts größer zu machen. Als sie der Meinung war dass es ausreichen würde, stellte sie sich wieder vor dem Spiegel, schlang sich das Korsett um die Taille, holte tief Luft, und schloss die Vorderschließe Stück für Stück zu. Klick, Klick, Klick. Endlich war das Korsett bis zum Unterleib geschlossen!
Eigentlich hätte sie nun die Korsettschnur spannen müssen, aber sie war der Meinung dass es für den Anfang eng genug wäre. Schließlich hatte sie niemals ein Korsett getragen. Als sie das Korsett in den Händen hielt, kam es ihr unglaublich schwer vor. Doch nun bemerkte sie es kaum. Was sie allerdings fühlte, war der Druck und diese Starrheit. Das Korsett bestand aus mehreren Schichten sehr starker Baumwolle, verstärkt mit kräftigen Korsettstäben, nur dafür gedacht ihr die richtige Form zu geben. Die Korsettstäbe steckten in speziellen Taschen und konnten herausgenommen werden. Es waren flache Stahlstäbe. Für Kristin war bisher Unterwäsche stets etwas Verführerisches, zartes Gewebe um die Gefühle eines Mannes zu erregen, oder auch nur Funktionell, bequem zu sein. Nun aber sah sie strenger aus, fast schon burschikos. Sie wurde sich so der Bezeichnung ‚Unterwäsche’ erst richtig bewusst. Wie das Wort schon sagte: Es war nur Wäsche die unter etwas anderem getragen wurde. Vorne sah sie zwei Stahlstreifen, zusammen 5 Zentimeter breit und ausgesprochen unflexibel, nur dazu da das Korsett geschlossen zu halten. Das war also die ‚Schließe’ von der auf der Deckelbeschreibung die Rede war. Selbst im ungeschnürten Zustand drückte die Schließe und versteifte ihren Oberkörper, drückte ihn in eine Haltung wie sie es bei Evangeline gesehen hatte. Ihre Hüften wurden nach hinten, der Oberkörper in eine gerade Haltung und der Magen flach gedrückt. Da Kristin nun ein Korsett aus der viktorianischen Zeit trug, wusste sie warum die Damen auf den Abbildungen diese Körperhaltung hatten. Die steife Vorderschließe und die Korsettstangen machten es ihnen unmöglich eine andere Körperhaltung einzunehmen. Kristin sah im Spiegel eine ganz andere Person. Sie stand sehr gerade, hatte einen größeren Busen, rundlichere Hüften, das Gesäß war nach hinten gedrückt und die Taille war schlanker. Und das Korsett war noch lange nicht geschnürt!
Kristin stellte die beiden Seitenspiegel so ein, dass sie ihre Rückseite betrachten konnte, und wurde sofort von dem Anblick in Schrecken versetzt. Oben war das Korsett fast geschlossen, aber weiter nach unten öffnete sich ein Spalt immer mehr, bis er in ihrer Taille fast 10 Zentimeter breit war! Weiter nach unten wurde der Spalt wieder schmaler. Es bestand kein Zweifel: Dieses Korsett war für jemand mit einer schlankeren Taille und volleren Hüften entworfen worden. Sie nahm an dass man bei permanent eng geschnürter Korsage nur noch im Hüftbereich zunehmen konnte. Das würde aber Jahre dauern, und sie würde es wohl trotzdem nicht schaffen. Kristin hatte anders gelebt als Evangeline. Sie hatte stets auf ihr Gewicht geachtet und viel Sport getrieben. So waren die Hüften der modernen Frau einfach schlanker. Diese Erkenntnis ließ Kristin fast verzweifeln, denn sie befürchtete dass sie niemals Evangelines Kleidungsstücken tragen könnte. So packte sie die Korsettschnur und begann daran zu ziehen.
Es war sehr schwierig: Nicht wegen fehlender Kräfte, sondern wegen der Technik wie sie ziehen musste. Sie begann wieder wie sie es im Film ‚Vom Winde verweht’ gesehen hatte. Sie zog die Korsettschnur einfach nach hinten gerade weg. Aber das war beinah unmöglich, denn so stark konnte sie ihre Arme nicht verrenken. Sie konnte nicht gleichzeitig an der immer länger werdenden Schnur ziehen und an den Ösen nachziehen. Außerdem hätte sie die Korsettschnur mehr seitlich ziehen müssen. Es war mehr als schwer. Da wusste sie warum die Damen der Vergangenheit immer eine Zofe hatten. Kristin zog, und zog, und zog immer weiter. Ihre Muskeln begannen zu schmerzen, ebenso die Schultergelenke. Rasch machte sie einen Knoten, damit sich die Korsettschnur nicht wieder lockern konnte. Ihre Atmung war ganz flach und hastig. Sie betrachtete sich im Spiegel. Von vorne sah das Korsett kaum enger aus. Als sie sich im Seitenspiegel den Rücken betrachtete wusste sie warum. Der Spalt hatte sich kaum geschlossen. Das war nicht gut.
Es gab aber noch eine Möglichkeit. Das hintere Schlafzimmer hatte zwei große Flügelfenster, welche nach außen geöffnet werden konnten. Zwei lange Stahlhaken warten daran befestigt. Diese Haken konnte man an der Außenwand in zwei Metallringe einhaken, damit die weit geöffneten Fenster nicht von alleine wieder zuschlugen. Der Fensterrahmen sah sehr stabil aus und so löste Kristin wieder die Korsettschnur und hakte die Schlaufen in die Stahlhaken ein. Das schien eine gute Idee zu sein. Sie brauchte sich nur noch mit dem Körper nach vorne lehnen, und zog so automatisch die Schnur stramm. Gleichzeitig konnte sie mit den Händen zwischen die Ösen greifen und die Schnur nachziehen. So ging es! Die Korsettschnur lief laut knarrend durch die Ösen, und das Korsett begann ständig enger zu werden. Sie fühlte die immer enger werdende Umarmung und wie der Körper noch steifer wurde. Als ob das Korsett mit ihrem Körper Eins werden würde. Sie fühlte bei jedem kleinen Schritt nach vorne den anwachsenden Druck, und das damit verbundene aufsteigende Vergnügen. Je stärker ihre Taille zusammengedrückt wurde, desto größer wurde ihre Erregung. Die zunehmende Atemlosigkeit wurde in eine ungestüme Erregung verwandelt. In jenem, Moment träumte sie nur noch von der Vereinigung mit einem Mann. Ein Blick in den Spiegel ließ sie verzücken. Ihre Taille war sichtbar schmaler geworden! Sie lachte leise und strengte sich noch mehr an. Sie würde es allen zeigen, sie war auf dem richtigen Weg! Es ging so leicht und fühlte sich so gut an! Nur ein paar Wochen Praxis und sie wäre bereit das zu versuchen, was Evangeline jemals versucht hatte. Sie könnte durch das Dorf gehen, gekleidet wie damals und mit nur einer 38 Zentimeter schmalen Taille, und die Bevölkerung würde denken der Geist von damals würde erscheinen. Da rutschte sie mit einem Fuß weg und fiel auf die Knie. Das tat zwar weh, doch viel schlimmer war die Tatsache, dass das Korsett ruckartig enger geschnürt wurde. ‚Ein glücklicher Unfall’, dachte sie und versuchte stöhnend vor Schmerz wieder auf die Füße zu kommen.
„Kristin? Was um Himmels Willen tust du?“
Kristin war gerade dabei wieder das Gleichgewicht zu bekommen, als Bruce hereinkam. Das hatte sie abgelenkt. Der Fall hatte bewirkt dass das Korsett so eng zugeschnürt, dass es sich schmerzhaft in die Taille eingrub. Sie kniete immer noch auf dem Fußboden und versuchte die Korsettschnur zu greifen.
„Was meinst du was ich hier tue? Ich versuche mein Korsett zu schnüren.“
Bruce trat vorsichtig näher, als wenn er zwischen Landminen gehen müsste. In seinem Gesichtsausdruck las sie eine gewisse Angst, aber auch Besorgtheit, Überraschung, Verwirrung, und... JA! Entzücken!
„Liebling, verzeihe mir meine Ignoranz, aber warum trägst du ein Korsett?“
Kristin war klar dass sie ihm nicht die volle Wahrheit sagen konnte. So versuchte sie ihn abzulenken. „Ich fand es oben auf dem Dachboden. Dort ist die wunderbarste Sammlung alter Kleidung aller Zeiten, und sie sind alle in einem phantastischen Zustand! Ich hatte mit einer der älteren Damen des Dorfs darüber gesprochen, und sie sagte mir dass jenes Mädchen auf dem Bild gestorben war, bevor sie heiraten konnte. Ich glaube, dass ich ihre Aussteuer gefunden habe. Herrliches Zeug. Ich möchte einiges davon anprobieren.“
Bruce kniete vor ihr auf dem Boden und legte seine Hände auf ihren Schultern. „Liebling, du hast doch die Figur des Mädchens gesehen! Du wirst sehr wahrscheinlich in keines ihrer Kleider hineinpassen!“
„Hattest du mir nicht gesagt dass sie in Wahrheit nie solch eine Figur gehabt haben konnte, und dass ihr Abbild eine Fälschung wäre?“
Das überzeugte ihn. Er erinnerte sich an seine Worte.
Da fügte sie hinzu: „Ich versuche ja nicht in jedes Kleid hineinzukommen. Ich habe mir eines ausgewählt, von dem ich glaube dass ich hineinpasse. Ich fand ein hinreißendes Kostüm, dass mit sehr wahrscheinlich passen wird. Aber dafür brauche ich dieses Korsett. Und so habe ich versucht mich zu schnüren, aber es ist nicht leicht. Hilf mir bitte auf die Beine.“
Bruce half ihr, und sie ging vorsichtig zum Fenster zurück. Dabei lockerte sich das atemberaubende Korsett.
„Ich dachte mir“, sagte sie während sie die Schlaufen der Korsettschnur aus den Fensterhaken herausnahm, „dass es zwar schwierig, aber dennoch zu bewältigen sei. Jetzt weiß ich warum die Damen früher Zofen hatten. So dachte ich...“
„Was?“, sagte Bruce, doch sie konnte in seinen Augen sehen dass er schon die Antwort wusste. Kristin lächelte innerlich. Sie hatte einen Weg gefunden, ihn für sich zu gewinnen, ihr wenigstens Behilflich zu sein.
„Tja, Liebling“, sagte sie mit einem unschuldigen Lächeln und drehte ihm ihren Rücken zu. Sie schaute ihn mit einem neckischen Blick über die Schulter an. „Schatz, würdest du bitte mein Korsett zuschnüren?“
Bruces Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Nichts würde mir ein größeres Vergnügen bereiten, gnädige Frau“, sagte er in einem höflichen Ton und fing an.
Ein paar Minuten später stand Kristin keuchend vor Bruce, da er das Korsett zugeschnürt hatte. Sie fragte sich ob es eine wirklich gute Idee gewesen war Bruce darum zu bitten. Als Mann hatte er all seine Kraft aufgewandt und das Korsett so eng wie möglich geschnürt.
So hatte Kristin eine schlanke Sanduhr- Figur mit allen Anzeichen einer Dame aus jener Zeit. Sie hatte das Gefühl als wenn sie neun Zehntel ihres Atemvolumens verloren hatte. Sie konnte sich auch nicht hinsetzen, weil die vordere Schließe sich tief in ihren Unterleib grub. Das Herumgehen fiel ihr dagegen nicht so schwer. Es fühlte sich sogar ganz gut an.
Bruce saß neben dem Waschtisch auf einem Stuhl und schlug die Beine übereinander. Er genoss sichtlich ihren Anblick. „Es steht dir sehr gut“, sagte er. „Du solltest es öfters tragen.“
„Du hast mich zu eng geschnürt“, beschwerte sich Kristin.
„Es gibt kein Pardon, die Dame. Du hast mich gebeten das Korsett so eng wie möglich zu schnüren, und jetzt sagst du mir dass es zu eng ist. Du musst es akzeptieren. Eines Tages wird es dir zu locker vorkommen, und dann wird es Zeit sein, dich in eine engeres Korsett zu schnüren.“
Immerhin hatte sein Sinneswandel eine gute Seite: Er schien Gefallen an ihrem geheimen Vorhaben zu entwickeln. Anscheinend wusste er mehr von Korsagen als sie gedacht hatte. Sie begann zu glauben, dass er sehr froh war ihr helfen zu können. Vielleicht hatte er tief im Innern einen verborgenen Fetisch, und nun kam er heraus. Allerdings war es fast zu schön um Wahr zu sein. Dennoch war er eine große Hilfe auf dem Weg, jemals das unmögliche Hochzeitkleid zu tragen und der armen Evangeline zu helfen ihren Frieden zu finden, falls sie überhaupt 35 Zentimeter erreichen könnte. Für den Anfang waren die 50 Zentimeter schon ganz gut.
Kristin stellte sich vor dem Spiegel und legte ihre Hände auf die Hüften. „Es sieht sagenhaft aus, nicht wahr?“
„Einfach großartig. Du spiegelst die ganze weibliche Schönheit wider, und siehst sehr sexy aus!“
„Oh, welch zärtliche Worte, und das von einem Finanzanalytiker mit der Seele eines Computers!“
„Ich habe auch Augen für Schönheit“, sagte Bruce und erhob sich. „Und ich habe niemals etwas Schöneres gesehen als du es bist in genau diesem Moment. Sie haben damals wahrlich gewusst wie schön man Frauen kleiden kann, Kristin. Ich will damit sagen: Du solltest es immer wieder tun.“
Sie lächelte, als er von hinten ihre Schultern berührte und sie sanft auf die Wange küsste.
„Das werde ich“, sagte sie. „Ich werde alle Kleidungsstücke tragen, die ich oben noch finden werde, wenn ich kann. Die meisten von ihnen sind niemals getragen worden. Sie müssen sich schon fast einsam fühlen.“
Bruce küsste sie wieder. „Wir werden ihnen Leben einhauchen“, sagte er, „und rufe mich, damit ich dich darin sehen kann. Allerdings bin ich mir sicher, dass wir dich in engere Korsagen schnüren müssen.“
„Höchstens zwei Zentimeter!“, antwortete Kristin atemlos und lachte dann doch. „Ich bin kurz davor ohnmächtig zu werden. Ziehe nicht noch enger!“
„Du meinst, enger zusammendrücken.“
„Na gut. Also Bruce, wirklich, das Korsett ist eng genug, enger könnte ich es jetzt nicht ertragen. Ich werde es aber für den Rest des Tages tragen und vielleicht sehen wir dann weiter. Wenn ich es als bequem empfinde, suche ich nach einem engeren Korsett und du kannst mich dann wieder schnüren.“
Bruce lachte. „Es wird mir eine Ehre und ein Vergnügen sein, Madame.“

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