Latexdame Jannette 'historische' Korsettgeschichten

Tante Pollys Ziehkind

Original Fiction by Stephen

Alle Rechte und weitere Nutzung beim Autor.

Übersetzung: Jannette

Kapitel Elf

In jene Nacht, als Patricia in ihrem Strafkorsett litt, beschloss sie eine dramatischere Aktion ausführen zu müssen. Die Aussicht durch eine Heirat ihrer Tante zu entkommen war zu weit entfernt. Sie glaubte nicht, dass sie all das, was ihre Tante von ihr wollte, nicht mehr durchstehen könnte. Patricia wollte nicht mehr warten bis sie in die Gesellschaft eingeführt werden würde. Sie hatte keine Freunde, vielleicht Marjorie, die entsprechend dem Wunsch ihrer verstorbenen Mutter in diesem Haus wohnen und arbeiten durfte. Aber Marjorie wohnte im Ostflügel bei der anderen Dienerschaft, weil Tante Polly sie für einen Schlechten Einfluss hielt. Was auch immer Patricia tun wollte, sie musste es alleine tun.
Patricia krabbelte mühsam aus dem Bett heraus und versuchte die Kerze anzuzünden, welche auf dem Nachttisch stand. Als die Kerze leuchtete, fühlte sie sich ein wenig besser, obwohl das Licht sehr spärlich war. Sie hätte auch die Gaslaterne anzünden können, hatte aber Angst dass jemand den hellen Lichtschein sehen könnte, der unter der Tür hindurch nach draußen scheinen würde. Es konnte ja sein, dass Braithwaite oder Tante Polly nachts über den Korridor gehen würden um aufzupassen dass sie nicht weg liefe. Obwohl sie sich dieses Risikos bewusst war, fühlte Patricia dass sie es unbedingt wagen musste. Sie suchte nach ihren Hausschuhen, und musste ihre Füße hinein schieben, da sie sich weder hinsetzen, bücken, oder wegen des hoch gedrückten Busens, etwas sehen konnte. Sie konnte sich lediglich an der Wand abstützen. Dann überlegte sie. Tante Polly hatte nicht nur ihr Verbesserungskorsett mit einem Vorhängeschloss abgeschlossen, sondern auch die Zimmertür verschlossen. Sie wollte fliehen, also versuchte sie es. Sie nahm den Brieföffner, den sie schon Mal benutzt hatte um die Korsettschnur zu zerschneiden. Sie fummelte solange mit dem spitzen Brieföffner herum, bis das Türschloss klickte und Patricia die Tür leise öffnen konnte. Vorsichtig schaute sie in den dunklen Flur hinaus. Ihre fürchterliche Tante war nicht zu sehen. Patricia lehnte die Tür wieder an und ging ins Zimmer zurück um sich einen Mantel anzuziehen. Geschützt vor der Kälte tastete sie sich in die nächtliche Dunkelheit des Westflügels hinein.
Es war ein langer Weg bis zur großen Eingangshalle in der Mitte des großen Hauses. Die meisten Räume waren leer, und ihre Tante weit weg im Ostflügel. Braithwaite schlief ebenfalls dort, um ihrer Tante jederzeit behilflich sein zu können. Sobald Patricia die letzten Zimmertüren einiger Mägde hinter sich gelassen hatte, konnte sie ein bisschen schneller gehen, so gut es das enge Strafkorsett zuließ.

Als Patricias Großeltern noch lebten, fanden an den Wochenenden bedeutende Bälle statt, und es gab viele Übernachtungsgäste. Aber nach deren Tod wollte niemand Tante Polly besuchen. Seitdem stand der größte Teil des Hauses leer, sauber und bereit für Gäste die nicht kommen wollten. Es war gewissermaßen geisterhaft, und Patricia fühlte sich erleichtert als sie die vielen verschlossenen Türen der leeren Zimmer passiert hatte und die Treppe zur vertrauten großen Eingangshalle erreichte. Der Mond schien herein und beleuchtete die breite Treppe. Patricia beeilte sich die lange Treppe zu überwinden. Sie hielt sich am Treppengeländer fest, da sie sich wegen des steifen Korsetts nicht sehr sicher fühlte. Schließlich erreichte sie die Haustür. Sie war zwar zu, aber nicht verschlossen, und schon stand sie draußen.

Was nun?

Nachdem Patricia das Haus verlassen hatte, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Es war eine ruhige Nacht, aber ihr wurde langsam kalt. Außerdem kannte sie sich nicht aus. Seitdem Tante Polly gegen sie angetreten war, hatte sie selten die Möglichkeit gehabt das Haus zu verlassen. Das große Grundstück hatte sie noch nie verlassen dürfen. Sie kannte nur die lange Auffahrt bis zum großen Tor mit dem Pförtnerhaus. Doch Patricia hatte keine Wahl.
Sie musste es einfach versuchen. Sie ging mit kleinen Schritten, mehr ließ das lange Strafkorsett nicht zu, die lange Auffahrt entlang. Was einst mit ihrer Mutter eine kurze Strecke war, zog sich nun in die Länge. Für die vierhundert Meter brauchte sie ungefähr zwanzig Minuten, inklusive zweier Verschnaufpausen die sie an einem Baum angelehnt einlegte. Sie konnte sich ja nicht hinsetzen. Schließlich erreichte sie das Tor. Sie überlegte verzweifelt wohin sie gehen sollte. Und wie sollte sie bei diesem Schneckentempo die nächste Stadt erreichen? Sie hoffte dass ihr was einfallen würde, doch vorher musste sie das Tor überwinden.
Das große Tor war natürlich abgeschlossen, und das kleinere Tor rechts neben dem Pförtnerhaus war ebenfalls abgeschlossen. An jedem Tor befand sich ein Klingelzug. Nachdem Patricia es an beiden Toren vergeblich versucht hatte, läutete sie. Nichts geschah. So zog sie wieder an dem Klingelseil. Über ihr öffnete sich ein Fenster und jemand rief: „Wer ist da!?“
„Ich möchte hinaus!“
„Wer sind sie?“
„Lady Patricia Quise.“
Ein unterdrückter Fluch erklang und die Stimme rief laut und deutlich: „Warten sie. Ich komme herunter.“
Patricia musste lange warten. Sie stand, mit ihrem bei jeder Bewegung und jedem Atemzug laut knarrenden Korsett, angelehnt an dem Mauerwerk des Torpfostens. Schließlich klapperte ein Schlüssel in einem Schloss und die Haustür des Häuschens öffnete sich. Der Pförtner kam mit einer Öllampe in der Hand heraus. Er sagte: „Wer sagten sie sind sie?“
Patricia trat näher heran und sagte: „Lady Patricia Quise. Ich bin Tante Pollys Nichte.“
„Tante wer?“
„Miss de la Coudière ist meine Tante. Ich bin ihre Nichte, und seit meine Mutter starb ist sie mein Vormund.“
„Und was ist, Lady Patricia, der Grund warum sie läuteten?“ Er hielt eine Taschenuhr in den Lichtschein der Lampe. „Es ist halb vier in der Früh!“
„Wie ich sagte, möchte ich nach draußen gehen.“
„Warum?“
Patricia schaute sich unsicher um, als wenn man sie beobachten würde. „Können sie ein Geheimnis für sich bewahren?“
„Ich kann es versuchen. Was ist es denn?“
„Ich will fortlaufen.“
„Was? Von ihrer Tante?“
„Ja. Ich kann nicht länger bei ihr bleiben. Sie schnürt mich mit einem Korsett bis ich ohnmächtig werde. Sie zieht mir so enge Röcke an dass ich nicht laufen kann. Und seit neuestem schlingt sie ein Band um meinen Hals dass mich erwürgt wenn ich den Kopf nach vorne neige. Weil ich deswegen den Kopf krampfhaft nach hinten ziehen muss, bekomme ich Rückenschmerzen. Ich muss hier unbedingt weg.“
Der Pförtner kratzte sich am Kopf. „Und ihre Tante will bestimmt nicht dass sie gehen. Deswegen kommen sie jetzt in der Nacht, nicht wahr?“
Patricia sagte nichts, aber ihr Schweigen sagte alles.
„Ich verstehe“, sagte er. „Es tut mir ja Leid, aber ich kann ihnen nicht helfen.“
„Aber...!“
„Bitte verstehen sie, Lady. Ich kann ihre Lage verstehen in der sie sich befinden. Ihre Tante ist ein Drachen, und jeder auf diesem Anwesen fürchtet sich vor ihr. Genau aus diesem Grund wage ich auch nicht ihr zu widerstreben. Wenn ich sie heraus lasse, weiß sie dass nur ich es getan haben kann. Und das bereitet mir Sorgen. Sie wird mich entlassen oder mich für den Rest meines Lebens im Arbeitskeller stecken. Oder viel schlimmer noch: Sie wird mich anzeigen sodass ich ins Gefängnis komme. Es tut mir Leid dass sie so schlecht behandelt werden, aber ich habe nicht den Mut ihnen zu helfen. Sie werden auf dem ganzen Anwesen die gleichen Antworten bekommen.“
Patricia lehnte sich wieder verzweifelt an den Torpfosten, jedenfalls versuchte sie es. Aber das Korsett beklagte sich geräuschvoll und so stellte sie sich wieder gerade hin. „Du sagst also, dass ich aufgeben soll, ist es so?“
„Lady, das ist wahrscheinlich das Beste. Eines kann ich aber für sie tun: Ich werde der Herrin nicht sagen dass sie hier gewesen sind. Ich werde nicht sagen dass sie versucht haben zu fliehen. Ich möchte ihnen einen guten Rat geben: Gehen sie wieder zurück bevor jemand merkt dass sie fort sind.“
Patricia gab einen leisen Seufzer von sich und überlegte. Sie sah ein dass der Mann Recht hatte. Und obwohl sie ihn für einen Feigling hielt, wusste sie, dass sie in seiner Lage es wahrscheinlich nicht besser getan hätte. Sie beschloss einen letzten Versuch zu starten, um wenigstens eine Erleichterung zu bekommen. „Du hast doch Schlüssel und Werkzeuge, oder? Kannst du ein Vorhängeschloss öffnen?“
„Ich kann es versuchen. Wo ist es?“
„Es ist hier.“ Patricia ließ den Mantel soweit nach unten gleiten, dass ihr Rücken frei wurde. Dabei drehte sie sich um. „Tante Polly und Braithwaite, das ist ihre Zofe, haben mich in das verdammte Verbesserungskorsett geschnürt und es abgeschlossen, damit ich mich nicht selber befreien kann. Kannst du vielleicht das Schloss für mich öffnen? Dann kann ich wenigstens wieder normal atmen.“
„Meine Lady, ich weiß nicht ob es richtig ist. Ihre Tante würde wissen dass ihnen jemand geholfen hat und es auf jeden Fall herausfinden. Es ist unmöglich sie anzulügen, nicht wenn sie einen direkt ins Gesicht schaut. Ziehen sie bitte wieder ihren Mantel an und gehen sie in das Haus zurück, bitte.“
Patricia schaute ihn über die Schulter hinweg an. „Ich kann nicht“, sagte sie. „Der Mantel hängt zu weit unten. Sie werden mir helfen müssen. Ich kann mich in diesem Korsett nicht ein bisschen bewegen oder gar beugen.“
„In Ordnung“, sagte der Pförtner und zog ihr den Mantel wieder über die Schultern. Dabei berührte er ihre Taille und wunderte sich. „Das ist aber ein fürchterliches Korsett, das sie da tragen. Meine verstorbene Ehefrau wäre sofort weggelaufen, bevor sie so ein Korsett hätte tragen müssen.“
„Sie hätte das Richtige getan“, sagte Patricia. „Das ist ein Strafkorsett. Die Ausbildungskorsetts sind schon schlimm genug, aber dieses Korsett wurde entworfen, um so unbequem wie möglich zu sein. Wer auch immer es entwarf, der hat es sehr gut gemacht, das kannst du mir glauben.“
Der Pförtner schüttelte seinen Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen wie es sein muss, wenn man ihn diesem Ding eingesperrt ist.“
„Versuch es nicht“, sagte Patricia zu ihm. „Versuch es nie.“ Sie ging wieder die Auffahrt zum Haus zurück.

Der Rest der Nacht verlief natürlich schlecht. Patricia ging langsamen Schrittes an der Mauer entlang, um eine nicht verschlossene Tür zu finden. Sie fand sogar zwei kleine Tore, die natürlich abgeschlossen waren. Sie versuchte sogar mit einem abgebrochenen Zweig eines der Türschlösser zu knacken, was natürlich sinnlos war, denn der Zweig brach im Schloss ab. Es überraschte sie nicht dass ihr Ausbruchsversuch ein Misserfolg war. Die Mauer war an der Stelle ungefähr 1,20 Meter hoch. Vor ein paar Monaten hätte ihr das nichts ausgemacht, aber mit dem Verbesserungskorsett war nichts zu machen. Es war unmöglich dass sie klettern konnte.

Als die Sonne aufgegangen war, kam Unruhe in dem Anwesen auf. Sie sah Leute herumrennen. Schließlich hörte sie wie ihr Namen gerufen wurde. Da wusste sie, dass es nur eine Frage der Zeit war, dass man sie finden würde, denn mit ihrem Verbesserungskorsett konnte sie nicht weglaufen. Schließlich wurde sie von einem Gärtner gefunden, der Hilfe anforderte. Ein paar Minuten später erschienen die beiden Diener, die einmal ihr Korsett furchtbar eng geschnürt hatten. Sie hatten eine Trage dabei. Die beiden legten Patricia darauf und trugen sie zum Haus. Jemand musste ihnen gesagt haben, dass sie nicht schnell gehen konnte, sehr wahrscheinlich Tante Polly.
Sie trugen sie durch ein Wäldchen, durch einen chinesischen Garten, durch einen Garten im Tudor-Stil, über einen großen Rasen und dann endlich auf die Terrasse, wo man Patricia auf die Füße stellte und auf ihre Tante wartete.

„So, Mädchen“, sagte Tante Polly mit sehr dünnen Lippen. „Du scheinst wohl eine kleine Ausbrecherin zu sein. Was hast du dazu zu sagen? Etwa schlafwandeln?“
„Nein, Tante Polly. Ich versuchte davonzulaufen.“
„WAS wolltest du!? Wie albern! Selbst als du ein normales Korsett getragen hast, war es unmöglich das Anwesen ohne fremde Hilfe verlassen zu können. Und selbst wenn du es gekonnt hättest, wie weit, glaubst du, kommt man mit einem Verbesserungskorsett das mit einem Vorhängeschloss verschlossen ist? Du bist ja so dumm, Patricia! Wenn du hier so bald wie möglich weg kommen willst, und du kannst mir glauben dass ich mich mehr darüber freue als du, geht das nur wenn du mir gehorchst. Wenn du tust was ich dir sage, werde ich aus dir eine sehr attraktive junge Dame machen. Und mit deinen Vorteilen sollte es nicht schwierig sein einen Ehemann zu finden.“
„Vorteile?“, fragte Patricia verwirrt.
„Deine dumme Mutter hat dir nichts hinterlassen als ein nachsichtiges altes Kindermädchen, Patricia, aber dein Vater wird dir was hinterlassen. Er hat zwar wieder geheiratet, aber ich weiß aus sicherer Quelle dass er wegen einer verschleppten Krankheit keine Kinder mehr zeugen kann. So wird sein Titel auf die weibliche Linie übergehen. Du musst eines wissen: Du wirst nicht den Titel erben, aber dein zukünftiger Sohn. Wenn dein Vater stirbt, wird dein Sohn ein Graf werden. Allein das reicht schon aus dir eine begehrte Dame zu machen. Und... obwohl ich, wie du ohne Zweifel weißt, dich aufs tiefste verachte, bist du als meine nächste Verwandte auch meine einzige Erbin. Wenn ich sterbe, wirst du dieses Haus und das Grundstück und all mein Eigentum erben, welches laut letzter Schätzung mehr als vierhunderttausend Pfund sind. Eines Tages wirst du reich sein, und du wirst an deinen Sohn einen Titel weitergeben können. Das ist es, was ich als Vorteil meine. Wenn du schön, selbstsicher und mit guten Manieren ausgestattet bist, wird dir die Gesellschaft zu Füßen liegen. Du musst nur mit den Fingern schnipsen, und schon laufen dir die Männer hinterher. Ich werde für dich den besten jungen Mann auswählen, und nach einer anständigen Hochzeit wirst du mich verlassen können. Hast du das endlich begriffen?“
„Ja, Tante Polly.“
„Jetzt komm herein. Braithwaite wartet darauf dich zu schnüren bis du ohnmächtig wirst.“

Kapitel Zwölf

Nach jener Nacht hatte Patricia es aufgegeben gegen ihre Tante zu rebellieren, jedenfalls für die nächste Zeit. Sie konnte nicht aus dem Park ihrer Tante fliehen, und das sollte so bleiben bis sie bereit war für ihre ersten Auftritte auf exquisiten Bällen der höheren Londoner Gesellschaft. So beschloss Patricia ihr Bestes zu geben, um endlich aus den Klauen ihrer Tante befreit zu werden. Sie studierte gewissenhaft die Künste von Charme und Verführung. Für Jemanden der ausgesprochen uncharmant und abweisend war, schien Tante Polly viel darüber zu wissen. Patricia fragte sich manchmal warum ihre Tante alleinstehend war, wo sie doch so viel darüber wusste wie man attraktiv auszusehen hatte. Doch sie wagte es nicht ihre Tante zu fragen. Patricia lernte verschiedene Tänze, und das trotz enger Stiefel mit hohen Absätzen, engen Lederunterröcken und langen Korsetts. Patricia wurde in den Geheimnissen einer komplizierten Redeweise und entsprechender Gesten eingewiesen. Ganz besonders wenn es darum galt einen jungen Mann höflich aber auch verlockend gegenüber zu stehen.

Eines Morgens, Patricias Taille war bis auf 39 Zentimeter geschnürt worden war, trug sie ein schwarzes enges Abendkleid mit einer ungefähr einen Meter langen Schleppe. Patricia wartete im Tanzsaal auf ihre Tante. Da kam plötzlich ein Zofe angerannte und sagte dass Patricia sofort zu Miss de la Coudière kommen sollte. Patricia wusste dass sie dem Befehl ihrer Tante Folge leisten musste. Sie zog den Rock vorne hoch. Es waren nur ein paar Zentimeter, damit man nicht ihre Fußknöchel sehen konnte. Aber dennoch weit genug um schnellen Schrittes bis zur Treppe eilen zu können, und dort langsam und elegant nach oben zu gehen. Sie betrat Tante Pollys Räume.
Ihre Tante saß im Ankleideraum, wie immer steif und aufrecht in ihrem eng anliegenden Kleid. Neben ihr stand ein kleiner Klapptisch. Auf dem Tisch standen mehrere hölzerne Gegenstände, jeweils 30 Zentimeter lang. Die hölzernen Gegenstände sahen aus wie eine Mischung aus Schere und Holzstift. Daneben lagen ein Paar lange weiße Kinder- Abendhandschuhe.
„Du wolltest mich sehen, Tante Polly?“
„Ja, Patricia. Du hast in den letzten Wochen gute Fortschritte gemacht. Ich glaube dass es jetzt an der Zeit ist dir die letzten Details beizubringen, die eine schöne Dame beherzigen muss. Ich habe dich zu mir gerufen, damit du jetzt lernst mit Abendhandschuhe umzugehen.“
„Ich bitte um Entschuldigung für meine Frage, Tante Polly, aber was soll ich lernen? Ich denke dass ich weiß wie man Handschuhe anzieht und trägt.“
„Da besteht ein großer Unterschied zwischen Handschuhe und Abendhandschuhe, und du musst noch viel lernen, Patricia. Als Erstes musst du wissen, dass man Abendhandschuhe nicht einfach so anziehen kann. Eine wirkliche Dame, die schön sein will, Patricia, trägt immer enge Handschuhe. Und je schöner und damenhafter sie wirken soll, desto enger müssen die Handschuhe sein.“ Die Tante nahm einen der seltsamen hölzernen Gegenstände und bewegte es auf und zu. „Dieses Instrument wird Handschuh- Dehner genannt. Du kannst sehen, dass es einen Riegel gibt, der verhindert dass sich die beiden Hälften berühren können. Ich nehme einen Abendhandschuh, etwa so, schließe das Dehngerät und schiebe es in einen der Handschuhfinger hinein. Dann spreize und verriegele ich das Gerät und dehne somit den Finger. Dann nehme ich das nächste Gerät und fahre fort. Danach lasse ich den Handschuh ein paar Stunden liegen. Diese Handschuhe sind aus feinstem Glaceleder gefertigt und nur dafür gedacht die Hände zu verschönern. Die Nähte sind fein, aber sehr stark. Die Federn in den Spreizern drücken so stark, dass sich das Leder dehnt. Und nach ein paar Stunden ist der Handschuh größer als vorher. Dann nimmt man die Spreizer heraus und zieht den Handschuh an. Es wird nicht leicht sein, denn der Handschuh ist immer noch sehr eng, aber nur so ist es möglich. Dann beginnt das Leder wieder langsam zu schrumpfen und es legt sich immer fester auf die Hand an. Wenn man dann auf einem Ball erscheint, hat das Leder des Handschuhs wieder seine ursprüngliche Form. Würde man die Handschuhspreizer nicht benutzten, könnte man niemals Handschuhe jener Größe anziehen.“
„Und wie kann ich nach einem Ball diese Handschuhe wieder ausziehen?“
„Nur sehr vorsichtig. Es ist sogar möglich, dass man sie nicht mehr ausziehen kann. Das wäre auch gar nicht so schlimm, denn wenn du enge Handschuhe so lange und so oft wie möglich trägst, bleibt die Haut an deinen Händen glatt und sanft. Nur im Notfall, und nur mit meiner Genehmigung, darf deine Zofe die Schere benutzen. Auch ich musste oft genug nach einem Ball die Handschuhe aufschneiden lassen.“
Patricia schaute auf den Handschuh, in dem die Spreizer steckten. Es war mehr als Offensichtlich, dass ihr eine neue Bürde auferlegt werden würde. Patricia wusste dass sie mit jenem zusätzlichen Problem, jener zusätzlichen Beschränkung klar kommen müsste. Sie wusste aber auch, dass es das Beste wäre sich diesem neuen Marterinstrument zu beugen, obwohl sie der Gedanke daran in Schrecken versetzte. „Darf ich es versuchen, Tante Polly?“
Ihre Tante lächelte. „Das sagt nur ein gutes Mädchen! Aber ja, doch nicht mit diesem Handschuh, da ich gerade erst die Handschuhspreizer hinein geschoben habe. Du würdest ihn nicht anziehen können. Ich hoffte, dass du Interesse zeigen würdest. So ließ ich gestern Abend von Braithwaite einige Handschuhe vorbereiten, welche zu deinem Kleid passen würden. Braithwaite, holst du bitte die Handschuhe?“
„Sofort, Madame.“ Braithwaite ging zu einer der unzähligen Kommoden, welche in Tante Pollys Ankleideraum standen, und holte ein Paar sehr lange und schwarze Glacehandschuhe. Patricia erkannte anhand der Form, dass die Handschuhe perfekt passten, ohne dass die Nähte reißen würden. Die Zofe trug die Handschuhe vorsichtig hinüber und legte sie auf den Tisch, neben dem Handschuh, den Tante Polly als Demonstration benutzt hatte.
„Jetzt, Patricia“, sagte ihre Tante, musst du darauf achten schnell zu sein. Nachdem die Spreizer herausgezogen sind, wird Braithwaite dir den ersten Handschuh so schnell wie möglich anziehen, sonst wird sich der Handschuh zusammenziehen, und du kommst mit deiner Hand nicht mehr hinein. Braithwaite, mit welcher Hand beginnen wir?“
„Die linke Hand, Madame.“
„Gut. Patricia, streckte deine linke Hand vor.“
Patricia tat es und streckte ihren Arm aus. Das ging ganz leicht, da sie ein ärmelloses Abendkleid trug. Braithwaite zog schnell, aber dennoch vorsichtig die Spreizapparate aus dem ersten Handschuh heraus. Und obwohl sie das mit geübten Griffen tat, dauerte es fast eine ganze Minute. Als der Handschuh leer war, rollte sie den Armteil des Handschuhs nach unten und sagte zu Patricia: „Bitte ihre Finger zusammenlegen und die Hand hinein drücken.“
Patricia tat es, aber der Handschuh war trotz der nächtlichen Dehnungsphase immer noch äußerst eng. Sie konnte ihre Hand nicht hinein schieben.
„Er ist zu klein“, sagte sie. „Tante Polly, bist du sicher, dass man bei mir die richtigen Maße genommen hat?“
„Natürlich hat man das, Dummerchen“, sagte ihre Tante. „Warte, Braithwaite, ich halte ihren Oberarm und die Schulter, während du den Handschuh über ihre Hand ziehst.“
Laut raschelnd stellte sich Tante Polly hinter Patricia und hielt deren linke Schulter samt Oberarm fest. Braithwaite nahm den engen Glacehandschuh mit beiden Händen und zerrte ihn über die Finger und dem Handrücken. Patricia hatte das Gefühl als wenn man ihr die Haut abziehen wollte, aber es gab eine Bewegung. Nicht nur sie selber, sondern auch die anderen beiden Frauen mussten sich stark anstrengen. Man hörte es am Stöhnen und dem lauten Knarren der Korsetts, da die drei Frauen heftig atmeten. Ruckweise ging es voran. Patricia fragte sich verzweifelt ob es richtig war, was sie da gerade tat. Da der Handschuh sich noch nicht wieder vollkommen zusammengezogen hatte, schaffte man es schließlich mit vereinten Kräften ihn über den breiten Handrücken zu ziehen. Braithwaite veränderte ihre Tätigkeit und drückte ihre Finger zwischen Patricias Finger, damit auch dort der Handschuh faltenfrei anlag. Noch einmal zerrte sie mit einem Ruck an dem Handschuh, und Patricias Finger als auch Hand waren in dem Handschuh. Dann wurde das Armteil langsam nach oben gerollt und gleichzeitig gezogen, damit keine Falte entstehen konnte. Schließlich lag das Leder wie eine zweite Haut von den Fingerspitzen bis zu der Schulter faltenfrei an.
Braithwaite gab einen leisen Seufzer von sich und ging zwei Schritte zurück. Sie betrachtete befriedigt ihr Werk. „So!“, sagte sie. „Ist das nicht schön?“
Patricia gefiel es aber nicht. Der Handschuh war so eng, dass sie kaum ihre Finger oder das Handgelenk bewegen konnte. Auch ihr Ellenbogen war ganz steif. Als sie es versuchen wollte, schrie ihre Tante: „Nicht! Tu das bloß nicht! Du bringst nur die Nähte zum Platzen. Du musst mit den Abendhandschuhen sehr sorgfältig umgehen.“
Patricia gehorchte und hielt ihre Hand vollkommen still. Ihre Finger lagen eng und leicht gekrümmt zusammen. „Tante Polly“, sagte sie. „Warum muss der Handschuh so eng sein?“
„Ich denke, es gibt da mehrere Gründe, Patricia. Erstens hat eine attraktive Lady kleine Hände zu haben. Je enger die Handschuhe, und somit je kleiner die Hände, desto hübscher und weiblicher wirkst du. Ein weiterer Grund ist der, dass dies der Beweis für deinen Stand ist. Es ist wirklich unmöglich in diese engen Handschuhe ohne fremde Hilfe hinein zu kommen. Braithwaite ist der Beweis. Und wenn du diese Handschuhe trägst, kannst mit deinen Händen nichts machen. Ladies arbeiten nicht mit ihren Händen. Und durch das Tragen von langen und engen Abendhandschuhen zeigst du allen dass du eine echte Lady bist. Dann sind da noch die Herren. Sie mögen es, wenn du den Eindruck erweckst schwach und hilflos zu sein. Sie mögen es den starken Beschützer zu spielen. Je hilfloser du auf sie wirkst, desto besser deine Wirkung. All deine Kleidungsstücke erhalten somit einen Sinn. Angefangen von deinem Korsett, über dem engen Rock, bis hin zu deinen hilflosen Händen und Armen: Alles soll dich in deiner Bewegungsfreiheit einschränken und dich gegenüber einem Gentlemen hilflos und ihm ausgeliefert erscheinen lassen. Und schließlich muss ich erwähnen, dass die Wirkung einer wie eine zweite Haut anliegenden Kleidung, sagen wir mal, interessant aussieht. Ich will das jetzt nicht weiter vertiefen, da es nicht richtig ist mit einem unverheirateten Mädchen darüber zu sprechen. Ich will nur soviel sagen, dass dieses Erscheinen das Werben der Männer beeinflusst. Unter meiner Führung wirst du dein Aussehen als mächtiges Werkzeug einsetzen um den Mann zu bekommen, der der Richtige für dich ist. Und jetzt denke ich, werden wir dir den anderen Handschuh anziehen. Braithwaite?“
Als Patricia beide Handschuhe trug, brachte ihr die Tante bei, wie man trotz der engen Handschuhe Gegenstände greifen konnte, ohne die Handschuhe zu beschädigen. Es war nicht leicht, da die Handschuhe so eng waren. Die Nähte waren sehr fein, hielten aber das Leder unter Spannung, sodass es trotz der zaghaften Bewegungen keine Falten gab. Die Finger, die Hände und die Arme sahen so aus, als wenn die Lederhandschuhe die echte Haut wären.
„Ich habe noch nie auch nur eine Naht meiner Handschuhe zum Reißen gebracht“, sagte Tante Polly voller Stolz. „Mit Ausnahme des Winters 1867. Ich befand mich auf einem Ball an Bord eines Schiffes, und plötzlich kam ein Sturm auf. Das Schiff neigte sich plötzlich zur Seite, und ich musste mich an einem Pfeiler festhalten, damit ich nicht umfiel. Meine Handschuhe rissen auf, aber das war ein kleiner Schaden. Viele Gäste fielen um, und einige zerrissen ihre Kleider. Einer Dame, deren Name ich nicht erwähnen möchte, brach sogar eine Naht an ihrem Korsett. In einem solchen Notfall würde ich dir verzeihen, wenn deine Handschuhe zerreißen würden. In jedem anderen Fall werde ich dich einen Zentimeter enger in dein Verbesserungskorsett einschließen lassen, wenn wir wieder zu Hause sind. Ist das klar?“
„Absolut, Tante Polly.“
„Gut. Und jetzt denke ich, ist es Zeit für das Mittagessen, Patricia. Können wir? Du musst lernen mit engen Handschuhen essen zu können. Das wirst du in Zukunft bei jedem formalem Abendessen tun müssen.“
Die Mahlzeit verlief nicht gut. Tante Polly unterrichtete Patricia wie sie vorsichtig die Nahrung zum Mund führen musste, ohne die engen Handschuhe in Gefahr zu bringen. Patricia spielte tatsächlich mehr mit ihrem Essen herum, als dass sie etwas aß.
„Was ist los mit dir, Mädchen?“
„Ich bitte um Entschuldigung, Tante Polly, ich habe keinen Hunger.“
„Liegt es daran, weil du so eng geschnürt bist?“
Schweigen.
„Du musst mir sagen wenn etwas nicht stimmt.“
„Ja, ich denke es liegt daran.“
„Patricia, du darfst nicht aufgeben! Du musst unbedingt was essen, um deine Figur zu bewahren. Wenn du hungerst, wirst du immer dünner werden. Und was hast du dann davon? Dein Körper braucht Fett, damit deine Büste und Hüften nicht schrumpfen. Aber dennoch darf kein einziger Moment der Druck von deiner Taille genommen werden, damit sich dort keine Fettpolster aufbauen.“

Kapitel 9 und 10     Kapitel 13 und 14