In jene Nacht, als Patricia in ihrem Strafkorsett litt, beschloss sie eine
dramatischere Aktion ausführen zu müssen. Die Aussicht durch eine Heirat ihrer
Tante zu entkommen war zu weit entfernt. Sie glaubte nicht, dass sie all das,
was ihre Tante von ihr wollte, nicht mehr durchstehen könnte. Patricia wollte
nicht mehr warten bis sie in die Gesellschaft eingeführt werden würde. Sie hatte
keine Freunde, vielleicht Marjorie, die entsprechend dem Wunsch ihrer
verstorbenen Mutter in diesem Haus wohnen und arbeiten durfte. Aber Marjorie
wohnte im Ostflügel bei der anderen Dienerschaft, weil Tante Polly sie für einen
Schlechten Einfluss hielt. Was auch immer Patricia tun wollte, sie musste es
alleine tun.
Patricia krabbelte mühsam aus dem Bett heraus und versuchte die Kerze
anzuzünden, welche auf dem Nachttisch stand. Als die Kerze leuchtete, fühlte sie
sich ein wenig besser, obwohl das Licht sehr spärlich war. Sie hätte auch die
Gaslaterne anzünden können, hatte aber Angst dass jemand den hellen Lichtschein
sehen könnte, der unter der Tür hindurch nach draußen scheinen würde. Es konnte
ja sein, dass Braithwaite oder Tante Polly nachts über den Korridor gehen würden
um aufzupassen dass sie nicht weg liefe. Obwohl sie sich dieses Risikos bewusst
war, fühlte Patricia dass sie es unbedingt wagen musste. Sie suchte nach ihren
Hausschuhen, und musste ihre Füße hinein schieben, da sie sich weder hinsetzen,
bücken, oder wegen des hoch gedrückten Busens, etwas sehen konnte. Sie konnte
sich lediglich an der Wand abstützen. Dann überlegte sie. Tante Polly hatte
nicht nur ihr Verbesserungskorsett mit einem Vorhängeschloss abgeschlossen,
sondern auch die Zimmertür verschlossen. Sie wollte fliehen, also versuchte sie
es. Sie nahm den Brieföffner, den sie schon Mal benutzt hatte um die
Korsettschnur zu zerschneiden. Sie fummelte solange mit dem spitzen Brieföffner
herum, bis das Türschloss klickte und Patricia die Tür leise öffnen konnte.
Vorsichtig schaute sie in den dunklen Flur hinaus. Ihre fürchterliche Tante war
nicht zu sehen. Patricia lehnte die Tür wieder an und ging ins Zimmer zurück um
sich einen Mantel anzuziehen. Geschützt vor der Kälte tastete sie sich in die
nächtliche Dunkelheit des Westflügels hinein.
Es war ein langer Weg bis zur großen Eingangshalle in der Mitte des großen
Hauses. Die meisten Räume waren leer, und ihre Tante weit weg im Ostflügel.
Braithwaite schlief ebenfalls dort, um ihrer Tante jederzeit behilflich sein zu
können. Sobald Patricia die letzten Zimmertüren einiger Mägde hinter sich
gelassen hatte, konnte sie ein bisschen schneller gehen, so gut es das enge
Strafkorsett zuließ.
Als Patricias Großeltern noch lebten, fanden an den Wochenenden bedeutende Bälle statt, und es gab viele Übernachtungsgäste. Aber nach deren Tod wollte niemand Tante Polly besuchen. Seitdem stand der größte Teil des Hauses leer, sauber und bereit für Gäste die nicht kommen wollten. Es war gewissermaßen geisterhaft, und Patricia fühlte sich erleichtert als sie die vielen verschlossenen Türen der leeren Zimmer passiert hatte und die Treppe zur vertrauten großen Eingangshalle erreichte. Der Mond schien herein und beleuchtete die breite Treppe. Patricia beeilte sich die lange Treppe zu überwinden. Sie hielt sich am Treppengeländer fest, da sie sich wegen des steifen Korsetts nicht sehr sicher fühlte. Schließlich erreichte sie die Haustür. Sie war zwar zu, aber nicht verschlossen, und schon stand sie draußen.
Was nun?
Nachdem Patricia das Haus verlassen hatte, wusste sie nicht, was sie tun
sollte. Es war eine ruhige Nacht, aber ihr wurde langsam kalt. Außerdem kannte
sie sich nicht aus. Seitdem Tante Polly gegen sie angetreten war, hatte sie
selten die Möglichkeit gehabt das Haus zu verlassen. Das große Grundstück hatte
sie noch nie verlassen dürfen. Sie kannte nur die lange Auffahrt bis zum großen
Tor mit dem Pförtnerhaus. Doch Patricia hatte keine Wahl.
Sie musste es einfach versuchen. Sie ging mit kleinen Schritten, mehr ließ das
lange Strafkorsett nicht zu, die lange Auffahrt entlang. Was einst mit ihrer
Mutter eine kurze Strecke war, zog sich nun in die Länge. Für die vierhundert
Meter brauchte sie ungefähr zwanzig Minuten, inklusive zweier Verschnaufpausen
die sie an einem Baum angelehnt einlegte. Sie konnte sich ja nicht hinsetzen.
Schließlich erreichte sie das Tor. Sie überlegte verzweifelt wohin sie gehen
sollte. Und wie sollte sie bei diesem Schneckentempo die nächste Stadt
erreichen? Sie hoffte dass ihr was einfallen würde, doch vorher musste sie das
Tor überwinden.
Das große Tor war natürlich abgeschlossen, und das kleinere Tor rechts neben dem
Pförtnerhaus war ebenfalls abgeschlossen. An jedem Tor befand sich ein
Klingelzug. Nachdem Patricia es an beiden Toren vergeblich versucht hatte,
läutete sie. Nichts geschah. So zog sie wieder an dem Klingelseil. Über ihr
öffnete sich ein Fenster und jemand rief: „Wer ist da!?“
„Ich möchte hinaus!“
„Wer sind sie?“
„Lady Patricia Quise.“
Ein unterdrückter Fluch erklang und die Stimme rief laut und deutlich: „Warten
sie. Ich komme herunter.“
Patricia musste lange warten. Sie stand, mit ihrem bei jeder Bewegung und jedem
Atemzug laut knarrenden Korsett, angelehnt an dem Mauerwerk des Torpfostens.
Schließlich klapperte ein Schlüssel in einem Schloss und die Haustür des
Häuschens öffnete sich. Der Pförtner kam mit einer Öllampe in der Hand heraus.
Er sagte: „Wer sagten sie sind sie?“
Patricia trat näher heran und sagte: „Lady Patricia Quise. Ich bin Tante Pollys
Nichte.“
„Tante wer?“
„Miss de la Coudière ist meine Tante. Ich bin ihre Nichte, und seit meine Mutter
starb ist sie mein Vormund.“
„Und was ist, Lady Patricia, der Grund warum sie läuteten?“ Er hielt eine
Taschenuhr in den Lichtschein der Lampe. „Es ist halb vier in der Früh!“
„Wie ich sagte, möchte ich nach draußen gehen.“
„Warum?“
Patricia schaute sich unsicher um, als wenn man sie beobachten würde. „Können
sie ein Geheimnis für sich bewahren?“
„Ich kann es versuchen. Was ist es denn?“
„Ich will fortlaufen.“
„Was? Von ihrer Tante?“
„Ja. Ich kann nicht länger bei ihr bleiben. Sie schnürt mich mit einem Korsett
bis ich ohnmächtig werde. Sie zieht mir so enge Röcke an dass ich nicht laufen
kann. Und seit neuestem schlingt sie ein Band um meinen Hals dass mich erwürgt
wenn ich den Kopf nach vorne neige. Weil ich deswegen den Kopf krampfhaft nach
hinten ziehen muss, bekomme ich Rückenschmerzen. Ich muss hier unbedingt weg.“
Der Pförtner kratzte sich am Kopf. „Und ihre Tante will bestimmt nicht dass sie
gehen. Deswegen kommen sie jetzt in der Nacht, nicht wahr?“
Patricia sagte nichts, aber ihr Schweigen sagte alles.
„Ich verstehe“, sagte er. „Es tut mir ja Leid, aber ich kann ihnen nicht
helfen.“
„Aber...!“
„Bitte verstehen sie, Lady. Ich kann ihre Lage verstehen in der sie sich
befinden. Ihre Tante ist ein Drachen, und jeder auf diesem Anwesen fürchtet sich
vor ihr. Genau aus diesem Grund wage ich auch nicht ihr zu widerstreben. Wenn
ich sie heraus lasse, weiß sie dass nur ich es getan haben kann. Und das
bereitet mir Sorgen. Sie wird mich entlassen oder mich für den Rest meines
Lebens im Arbeitskeller stecken. Oder viel schlimmer noch: Sie wird mich
anzeigen sodass ich ins Gefängnis komme. Es tut mir Leid dass sie so schlecht
behandelt werden, aber ich habe nicht den Mut ihnen zu helfen. Sie werden auf
dem ganzen Anwesen die gleichen Antworten bekommen.“
Patricia lehnte sich wieder verzweifelt an den Torpfosten, jedenfalls versuchte
sie es. Aber das Korsett beklagte sich geräuschvoll und so stellte sie sich
wieder gerade hin. „Du sagst also, dass ich aufgeben soll, ist es so?“
„Lady, das ist wahrscheinlich das Beste. Eines kann ich aber für sie tun: Ich
werde der Herrin nicht sagen dass sie hier gewesen sind. Ich werde nicht sagen
dass sie versucht haben zu fliehen. Ich möchte ihnen einen guten Rat geben:
Gehen sie wieder zurück bevor jemand merkt dass sie fort sind.“
Patricia gab einen leisen Seufzer von sich und überlegte. Sie sah ein dass der
Mann Recht hatte. Und obwohl sie ihn für einen Feigling hielt, wusste sie, dass
sie in seiner Lage es wahrscheinlich nicht besser getan hätte. Sie beschloss
einen letzten Versuch zu starten, um wenigstens eine Erleichterung zu bekommen.
„Du hast doch Schlüssel und Werkzeuge, oder? Kannst du ein Vorhängeschloss
öffnen?“
„Ich kann es versuchen. Wo ist es?“
„Es ist hier.“ Patricia ließ den Mantel soweit nach unten gleiten, dass ihr
Rücken frei wurde. Dabei drehte sie sich um. „Tante Polly und Braithwaite, das
ist ihre Zofe, haben mich in das verdammte Verbesserungskorsett geschnürt und es
abgeschlossen, damit ich mich nicht selber befreien kann. Kannst du vielleicht
das Schloss für mich öffnen? Dann kann ich wenigstens wieder normal atmen.“
„Meine Lady, ich weiß nicht ob es richtig ist. Ihre Tante würde wissen dass
ihnen jemand geholfen hat und es auf jeden Fall herausfinden. Es ist unmöglich
sie anzulügen, nicht wenn sie einen direkt ins Gesicht schaut. Ziehen sie bitte
wieder ihren Mantel an und gehen sie in das Haus zurück, bitte.“
Patricia schaute ihn über die Schulter hinweg an. „Ich kann nicht“, sagte sie.
„Der Mantel hängt zu weit unten. Sie werden mir helfen müssen. Ich kann mich in
diesem Korsett nicht ein bisschen bewegen oder gar beugen.“
„In Ordnung“, sagte der Pförtner und zog ihr den Mantel wieder über die
Schultern. Dabei berührte er ihre Taille und wunderte sich. „Das ist aber ein
fürchterliches Korsett, das sie da tragen. Meine verstorbene Ehefrau wäre sofort
weggelaufen, bevor sie so ein Korsett hätte tragen müssen.“
„Sie hätte das Richtige getan“, sagte Patricia. „Das ist ein Strafkorsett. Die
Ausbildungskorsetts sind schon schlimm genug, aber dieses Korsett wurde
entworfen, um so unbequem wie möglich zu sein. Wer auch immer es entwarf, der
hat es sehr gut gemacht, das kannst du mir glauben.“
Der Pförtner schüttelte seinen Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen wie es sein
muss, wenn man ihn diesem Ding eingesperrt ist.“
„Versuch es nicht“, sagte Patricia zu ihm. „Versuch es nie.“ Sie ging wieder die
Auffahrt zum Haus zurück.
Der Rest der Nacht verlief natürlich schlecht. Patricia ging langsamen Schrittes an der Mauer entlang, um eine nicht verschlossene Tür zu finden. Sie fand sogar zwei kleine Tore, die natürlich abgeschlossen waren. Sie versuchte sogar mit einem abgebrochenen Zweig eines der Türschlösser zu knacken, was natürlich sinnlos war, denn der Zweig brach im Schloss ab. Es überraschte sie nicht dass ihr Ausbruchsversuch ein Misserfolg war. Die Mauer war an der Stelle ungefähr 1,20 Meter hoch. Vor ein paar Monaten hätte ihr das nichts ausgemacht, aber mit dem Verbesserungskorsett war nichts zu machen. Es war unmöglich dass sie klettern konnte.
Als die Sonne aufgegangen war, kam Unruhe in dem Anwesen auf. Sie sah Leute
herumrennen. Schließlich hörte sie wie ihr Namen gerufen wurde. Da wusste sie,
dass es nur eine Frage der Zeit war, dass man sie finden würde, denn mit ihrem
Verbesserungskorsett konnte sie nicht weglaufen. Schließlich wurde sie von einem
Gärtner gefunden, der Hilfe anforderte. Ein paar Minuten später erschienen die
beiden Diener, die einmal ihr Korsett furchtbar eng geschnürt hatten. Sie hatten
eine Trage dabei. Die beiden legten Patricia darauf und trugen sie zum Haus.
Jemand musste ihnen gesagt haben, dass sie nicht schnell gehen konnte, sehr
wahrscheinlich Tante Polly.
Sie trugen sie durch ein Wäldchen, durch einen chinesischen Garten, durch einen
Garten im Tudor-Stil, über einen großen Rasen und dann endlich auf die Terrasse,
wo man Patricia auf die Füße stellte und auf ihre Tante wartete.
„So, Mädchen“, sagte Tante Polly mit sehr dünnen Lippen. „Du scheinst wohl
eine kleine Ausbrecherin zu sein. Was hast du dazu zu sagen? Etwa
schlafwandeln?“
„Nein, Tante Polly. Ich versuchte davonzulaufen.“
„WAS wolltest du!? Wie albern! Selbst als du ein normales Korsett getragen hast,
war es unmöglich das Anwesen ohne fremde Hilfe verlassen zu können. Und selbst
wenn du es gekonnt hättest, wie weit, glaubst du, kommt man mit einem
Verbesserungskorsett das mit einem Vorhängeschloss verschlossen ist? Du bist ja
so dumm, Patricia! Wenn du hier so bald wie möglich weg kommen willst, und du
kannst mir glauben dass ich mich mehr darüber freue als du, geht das nur wenn du
mir gehorchst. Wenn du tust was ich dir sage, werde ich aus dir eine sehr
attraktive junge Dame machen. Und mit deinen Vorteilen sollte es nicht schwierig
sein einen Ehemann zu finden.“
„Vorteile?“, fragte Patricia verwirrt.
„Deine dumme Mutter hat dir nichts hinterlassen als ein nachsichtiges altes
Kindermädchen, Patricia, aber dein Vater wird dir was hinterlassen. Er hat zwar
wieder geheiratet, aber ich weiß aus sicherer Quelle dass er wegen einer
verschleppten Krankheit keine Kinder mehr zeugen kann. So wird sein Titel auf
die weibliche Linie übergehen. Du musst eines wissen: Du wirst nicht den Titel
erben, aber dein zukünftiger Sohn. Wenn dein Vater stirbt, wird dein Sohn ein
Graf werden. Allein das reicht schon aus dir eine begehrte Dame zu machen.
Und... obwohl ich, wie du ohne Zweifel weißt, dich aufs tiefste verachte, bist
du als meine nächste Verwandte auch meine einzige Erbin. Wenn ich sterbe, wirst
du dieses Haus und das Grundstück und all mein Eigentum erben, welches laut
letzter Schätzung mehr als vierhunderttausend Pfund sind. Eines Tages wirst du
reich sein, und du wirst an deinen Sohn einen Titel weitergeben können. Das ist
es, was ich als Vorteil meine. Wenn du schön, selbstsicher und mit guten
Manieren ausgestattet bist, wird dir die Gesellschaft zu Füßen liegen. Du musst
nur mit den Fingern schnipsen, und schon laufen dir die Männer hinterher. Ich
werde für dich den besten jungen Mann auswählen, und nach einer anständigen
Hochzeit wirst du mich verlassen können. Hast du das endlich begriffen?“
„Ja, Tante Polly.“
„Jetzt komm herein. Braithwaite wartet darauf dich zu schnüren bis du ohnmächtig
wirst.“
Nach jener Nacht hatte Patricia es aufgegeben gegen ihre Tante zu rebellieren, jedenfalls für die nächste Zeit. Sie konnte nicht aus dem Park ihrer Tante fliehen, und das sollte so bleiben bis sie bereit war für ihre ersten Auftritte auf exquisiten Bällen der höheren Londoner Gesellschaft. So beschloss Patricia ihr Bestes zu geben, um endlich aus den Klauen ihrer Tante befreit zu werden. Sie studierte gewissenhaft die Künste von Charme und Verführung. Für Jemanden der ausgesprochen uncharmant und abweisend war, schien Tante Polly viel darüber zu wissen. Patricia fragte sich manchmal warum ihre Tante alleinstehend war, wo sie doch so viel darüber wusste wie man attraktiv auszusehen hatte. Doch sie wagte es nicht ihre Tante zu fragen. Patricia lernte verschiedene Tänze, und das trotz enger Stiefel mit hohen Absätzen, engen Lederunterröcken und langen Korsetts. Patricia wurde in den Geheimnissen einer komplizierten Redeweise und entsprechender Gesten eingewiesen. Ganz besonders wenn es darum galt einen jungen Mann höflich aber auch verlockend gegenüber zu stehen.
Eines Morgens, Patricias Taille war bis auf 39 Zentimeter geschnürt worden
war, trug sie ein schwarzes enges Abendkleid mit einer ungefähr einen Meter
langen Schleppe. Patricia wartete im Tanzsaal auf ihre Tante. Da kam plötzlich
ein Zofe angerannte und sagte dass Patricia sofort zu Miss de la Coudière kommen
sollte. Patricia wusste dass sie dem Befehl ihrer Tante Folge leisten musste.
Sie zog den Rock vorne hoch. Es waren nur ein paar Zentimeter, damit man nicht
ihre Fußknöchel sehen konnte. Aber dennoch weit genug um schnellen Schrittes bis
zur Treppe eilen zu können, und dort langsam und elegant nach oben zu gehen. Sie
betrat Tante Pollys Räume.
Ihre Tante saß im Ankleideraum, wie immer steif und aufrecht in ihrem eng
anliegenden Kleid. Neben ihr stand ein kleiner Klapptisch. Auf dem Tisch standen
mehrere hölzerne Gegenstände, jeweils 30 Zentimeter lang. Die hölzernen
Gegenstände sahen aus wie eine Mischung aus Schere und Holzstift. Daneben lagen
ein Paar lange weiße Kinder- Abendhandschuhe.
„Du wolltest mich sehen, Tante Polly?“
„Ja, Patricia. Du hast in den letzten Wochen gute Fortschritte gemacht. Ich
glaube dass es jetzt an der Zeit ist dir die letzten Details beizubringen, die
eine schöne Dame beherzigen muss. Ich habe dich zu mir gerufen, damit du jetzt
lernst mit Abendhandschuhe umzugehen.“
„Ich bitte um Entschuldigung für meine Frage, Tante Polly, aber was soll ich
lernen? Ich denke dass ich weiß wie man Handschuhe anzieht und trägt.“
„Da besteht ein großer Unterschied zwischen Handschuhe und Abendhandschuhe, und
du musst noch viel lernen, Patricia. Als Erstes musst du wissen, dass man
Abendhandschuhe nicht einfach so anziehen kann. Eine wirkliche Dame, die schön
sein will, Patricia, trägt immer enge Handschuhe. Und je schöner und damenhafter
sie wirken soll, desto enger müssen die Handschuhe sein.“ Die Tante nahm einen
der seltsamen hölzernen Gegenstände und bewegte es auf und zu. „Dieses
Instrument wird Handschuh- Dehner genannt. Du kannst sehen, dass es einen Riegel
gibt, der verhindert dass sich die beiden Hälften berühren können. Ich nehme
einen Abendhandschuh, etwa so, schließe das Dehngerät und schiebe es in einen
der Handschuhfinger hinein. Dann spreize und verriegele ich das Gerät und dehne
somit den Finger. Dann nehme ich das nächste Gerät und fahre fort. Danach lasse
ich den Handschuh ein paar Stunden liegen. Diese Handschuhe sind aus feinstem
Glaceleder gefertigt und nur dafür gedacht die Hände zu verschönern. Die Nähte
sind fein, aber sehr stark. Die Federn in den Spreizern drücken so stark, dass
sich das Leder dehnt. Und nach ein paar Stunden ist der Handschuh größer als
vorher. Dann nimmt man die Spreizer heraus und zieht den Handschuh an. Es wird
nicht leicht sein, denn der Handschuh ist immer noch sehr eng, aber nur so ist
es möglich. Dann beginnt das Leder wieder langsam zu schrumpfen und es legt sich
immer fester auf die Hand an. Wenn man dann auf einem Ball erscheint, hat das
Leder des Handschuhs wieder seine ursprüngliche Form. Würde man die
Handschuhspreizer nicht benutzten, könnte man niemals Handschuhe jener Größe
anziehen.“
„Und wie kann ich nach einem Ball diese Handschuhe wieder ausziehen?“
„Nur sehr vorsichtig. Es ist sogar möglich, dass man sie nicht mehr ausziehen
kann. Das wäre auch gar nicht so schlimm, denn wenn du enge Handschuhe so lange
und so oft wie möglich trägst, bleibt die Haut an deinen Händen glatt und sanft.
Nur im Notfall, und nur mit meiner Genehmigung, darf deine Zofe die Schere
benutzen. Auch ich musste oft genug nach einem Ball die Handschuhe aufschneiden
lassen.“
Patricia schaute auf den Handschuh, in dem die Spreizer steckten. Es war mehr
als Offensichtlich, dass ihr eine neue Bürde auferlegt werden würde. Patricia
wusste dass sie mit jenem zusätzlichen Problem, jener zusätzlichen Beschränkung
klar kommen müsste. Sie wusste aber auch, dass es das Beste wäre sich diesem
neuen Marterinstrument zu beugen, obwohl sie der Gedanke daran in Schrecken
versetzte. „Darf ich es versuchen, Tante Polly?“
Ihre Tante lächelte. „Das sagt nur ein gutes Mädchen! Aber ja, doch nicht mit
diesem Handschuh, da ich gerade erst die Handschuhspreizer hinein geschoben
habe. Du würdest ihn nicht anziehen können. Ich hoffte, dass du Interesse zeigen
würdest. So ließ ich gestern Abend von Braithwaite einige Handschuhe
vorbereiten, welche zu deinem Kleid passen würden. Braithwaite, holst du bitte
die Handschuhe?“
„Sofort, Madame.“ Braithwaite ging zu einer der unzähligen Kommoden, welche in
Tante Pollys Ankleideraum standen, und holte ein Paar sehr lange und schwarze
Glacehandschuhe. Patricia erkannte anhand der Form, dass die Handschuhe perfekt
passten, ohne dass die Nähte reißen würden. Die Zofe trug die Handschuhe
vorsichtig hinüber und legte sie auf den Tisch, neben dem Handschuh, den Tante
Polly als Demonstration benutzt hatte.
„Jetzt, Patricia“, sagte ihre Tante, musst du darauf achten schnell zu sein.
Nachdem die Spreizer herausgezogen sind, wird Braithwaite dir den ersten
Handschuh so schnell wie möglich anziehen, sonst wird sich der Handschuh
zusammenziehen, und du kommst mit deiner Hand nicht mehr hinein. Braithwaite,
mit welcher Hand beginnen wir?“
„Die linke Hand, Madame.“
„Gut. Patricia, streckte deine linke Hand vor.“
Patricia tat es und streckte ihren Arm aus. Das ging ganz leicht, da sie ein
ärmelloses Abendkleid trug. Braithwaite zog schnell, aber dennoch vorsichtig die
Spreizapparate aus dem ersten Handschuh heraus. Und obwohl sie das mit geübten
Griffen tat, dauerte es fast eine ganze Minute. Als der Handschuh leer war,
rollte sie den Armteil des Handschuhs nach unten und sagte zu Patricia: „Bitte
ihre Finger zusammenlegen und die Hand hinein drücken.“
Patricia tat es, aber der Handschuh war trotz der nächtlichen Dehnungsphase
immer noch äußerst eng. Sie konnte ihre Hand nicht hinein schieben.
„Er ist zu klein“, sagte sie. „Tante Polly, bist du sicher, dass man bei mir die
richtigen Maße genommen hat?“
„Natürlich hat man das, Dummerchen“, sagte ihre Tante. „Warte, Braithwaite, ich
halte ihren Oberarm und die Schulter, während du den Handschuh über ihre Hand
ziehst.“
Laut raschelnd stellte sich Tante Polly hinter Patricia und hielt deren linke
Schulter samt Oberarm fest. Braithwaite nahm den engen Glacehandschuh mit beiden
Händen und zerrte ihn über die Finger und dem Handrücken. Patricia hatte das
Gefühl als wenn man ihr die Haut abziehen wollte, aber es gab eine Bewegung.
Nicht nur sie selber, sondern auch die anderen beiden Frauen mussten sich stark
anstrengen. Man hörte es am Stöhnen und dem lauten Knarren der Korsetts, da die
drei Frauen heftig atmeten. Ruckweise ging es voran. Patricia fragte sich
verzweifelt ob es richtig war, was sie da gerade tat. Da der Handschuh sich noch
nicht wieder vollkommen zusammengezogen hatte, schaffte man es schließlich mit
vereinten Kräften ihn über den breiten Handrücken zu ziehen. Braithwaite
veränderte ihre Tätigkeit und drückte ihre Finger zwischen Patricias Finger,
damit auch dort der Handschuh faltenfrei anlag. Noch einmal zerrte sie mit einem
Ruck an dem Handschuh, und Patricias Finger als auch Hand waren in dem
Handschuh. Dann wurde das Armteil langsam nach oben gerollt und gleichzeitig
gezogen, damit keine Falte entstehen konnte. Schließlich lag das Leder wie eine
zweite Haut von den Fingerspitzen bis zu der Schulter faltenfrei an.
Braithwaite gab einen leisen Seufzer von sich und ging zwei Schritte zurück. Sie
betrachtete befriedigt ihr Werk. „So!“, sagte sie. „Ist das nicht schön?“
Patricia gefiel es aber nicht. Der Handschuh war so eng, dass sie kaum ihre
Finger oder das Handgelenk bewegen konnte. Auch ihr Ellenbogen war ganz steif.
Als sie es versuchen wollte, schrie ihre Tante: „Nicht! Tu das bloß nicht! Du
bringst nur die Nähte zum Platzen. Du musst mit den Abendhandschuhen sehr
sorgfältig umgehen.“
Patricia gehorchte und hielt ihre Hand vollkommen still. Ihre Finger lagen eng
und leicht gekrümmt zusammen. „Tante Polly“, sagte sie. „Warum muss der
Handschuh so eng sein?“
„Ich denke, es gibt da mehrere Gründe, Patricia. Erstens hat eine attraktive
Lady kleine Hände zu haben. Je enger die Handschuhe, und somit je kleiner die
Hände, desto hübscher und weiblicher wirkst du. Ein weiterer Grund ist der, dass
dies der Beweis für deinen Stand ist. Es ist wirklich unmöglich in diese engen
Handschuhe ohne fremde Hilfe hinein zu kommen. Braithwaite ist der Beweis. Und
wenn du diese Handschuhe trägst, kannst mit deinen Händen nichts machen. Ladies
arbeiten nicht mit ihren Händen. Und durch das Tragen von langen und engen
Abendhandschuhen zeigst du allen dass du eine echte Lady bist. Dann sind da noch
die Herren. Sie mögen es, wenn du den Eindruck erweckst schwach und hilflos zu
sein. Sie mögen es den starken Beschützer zu spielen. Je hilfloser du auf sie
wirkst, desto besser deine Wirkung. All deine Kleidungsstücke erhalten somit
einen Sinn. Angefangen von deinem Korsett, über dem engen Rock, bis hin zu
deinen hilflosen Händen und Armen: Alles soll dich in deiner Bewegungsfreiheit
einschränken und dich gegenüber einem Gentlemen hilflos und ihm ausgeliefert
erscheinen lassen. Und schließlich muss ich erwähnen, dass die Wirkung einer wie
eine zweite Haut anliegenden Kleidung, sagen wir mal, interessant aussieht. Ich
will das jetzt nicht weiter vertiefen, da es nicht richtig ist mit einem
unverheirateten Mädchen darüber zu sprechen. Ich will nur soviel sagen, dass
dieses Erscheinen das Werben der Männer beeinflusst. Unter meiner Führung wirst
du dein Aussehen als mächtiges Werkzeug einsetzen um den Mann zu bekommen, der
der Richtige für dich ist. Und jetzt denke ich, werden wir dir den anderen
Handschuh anziehen. Braithwaite?“
Als Patricia beide Handschuhe trug, brachte ihr die Tante bei, wie man trotz der
engen Handschuhe Gegenstände greifen konnte, ohne die Handschuhe zu beschädigen.
Es war nicht leicht, da die Handschuhe so eng waren. Die Nähte waren sehr fein,
hielten aber das Leder unter Spannung, sodass es trotz der zaghaften Bewegungen
keine Falten gab. Die Finger, die Hände und die Arme sahen so aus, als wenn die
Lederhandschuhe die echte Haut wären.
„Ich habe noch nie auch nur eine Naht meiner Handschuhe zum Reißen gebracht“,
sagte Tante Polly voller Stolz. „Mit Ausnahme des Winters 1867. Ich befand mich
auf einem Ball an Bord eines Schiffes, und plötzlich kam ein Sturm auf. Das
Schiff neigte sich plötzlich zur Seite, und ich musste mich an einem Pfeiler
festhalten, damit ich nicht umfiel. Meine Handschuhe rissen auf, aber das war
ein kleiner Schaden. Viele Gäste fielen um, und einige zerrissen ihre Kleider.
Einer Dame, deren Name ich nicht erwähnen möchte, brach sogar eine Naht an ihrem
Korsett. In einem solchen Notfall würde ich dir verzeihen, wenn deine Handschuhe
zerreißen würden. In jedem anderen Fall werde ich dich einen Zentimeter enger in
dein Verbesserungskorsett einschließen lassen, wenn wir wieder zu Hause sind.
Ist das klar?“
„Absolut, Tante Polly.“
„Gut. Und jetzt denke ich, ist es Zeit für das Mittagessen, Patricia. Können
wir? Du musst lernen mit engen Handschuhen essen zu können. Das wirst du in
Zukunft bei jedem formalem Abendessen tun müssen.“
Die Mahlzeit verlief nicht gut. Tante Polly unterrichtete Patricia wie sie
vorsichtig die Nahrung zum Mund führen musste, ohne die engen Handschuhe in
Gefahr zu bringen. Patricia spielte tatsächlich mehr mit ihrem Essen herum, als
dass sie etwas aß.
„Was ist los mit dir, Mädchen?“
„Ich bitte um Entschuldigung, Tante Polly, ich habe keinen Hunger.“
„Liegt es daran, weil du so eng geschnürt bist?“
Schweigen.
„Du musst mir sagen wenn etwas nicht stimmt.“
„Ja, ich denke es liegt daran.“
„Patricia, du darfst nicht aufgeben! Du musst unbedingt was essen, um deine
Figur zu bewahren. Wenn du hungerst, wirst du immer dünner werden. Und was hast
du dann davon? Dein Körper braucht Fett, damit deine Büste und Hüften nicht
schrumpfen. Aber dennoch darf kein einziger Moment der Druck von deiner Taille
genommen werden, damit sich dort keine Fettpolster aufbauen.“