Latexdame Jannette 'historische' Korsettgeschichten

Tante Pollys Ziehkind

Original Fiction by Stephen

Alle Rechte und weitere Nutzung beim Autor.

Übersetzung: Jannette

Kapitel Fünfzehn

Die Musiker hatten angefangen zu spielen. Tante Polly beschleunigte ihren Schritt, soweit es ihr der enge Rock erlaubte. Es war zwar sehr gut dass eine Schönheit der höheren Gesellschaft ihren Auftritt bekam, aber ihrer alberne Nichte war ein Neuling und Tante Polly musste sich vergewissern dass ihre Nichte von Anfang an von jedem wahrgenommen werden konnte. Wenn sie nicht schon beim ersten Tanz anwesend wäre, würde sie die erste Gelegenheit ihrer Einführung in die Gesellschaft verpassen.

Tante Polly erreichte eine weiß getäfelte Tür und klopfte laut an. Gleichzeitig rief sie: „Hallo! Wo bleibt ihr?“
„Einen Moment, Madame“, antwortete Braithwaite. Es hörte sich an, als wenn Möbel verrückt wurden, dann der Klang von mehreren Schritten, sowie eine nicht verständliche Beschwerde. Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet und Braithwaite schaute in den Flur hinaus. „Ja, Miss de la Coudière?“
„Wo bleibt ihr?“, wiederholte Tante Polly. „Warum ist Patricia nicht fertig?“
Braithwaite schaute über die Schulter ihres schwarzen Seidenkleids in das Zimmer. Dann sagte sie: „Ja... sie hatte Probleme mit ihrem Korsett.“
Tante Polly schnalzte mit der Zunge. „Das war klar! Ich hoffe dass sie keine Probleme macht.“
„Ich denke nicht, jetzt nicht mehr. So weit ich sagen kann, will sie wirklich fertig werden um im Tanzsaal einen guten Eindruck auf die jungen Herren zu machen. Das Kleid ist sehr eng und kann noch nicht geschlossen werden. Es ist sehr schwer ihre Taille entsprechend enger zu schnüren. Außerdem wurde sie mehrmals ohnmächtig.“
„Ich möchte für einen Moment hereinkommen.“
„Ist noch irgendjemand da draußen, Madame?“
„Nein, der Korridor ist leer.“
„Dann kommen sie bitte schnell herein.“ Braithwaite öffnete die Tür, damit Tante Polly eintreten konnte.
Der Raum war ein kleines Schlafzimmer. Das Zimmer wirkte unordentlich und überfüllt, da alle Möbel an den Wänden verteilt standen um Platz für Patricias Schnürbank zu gewinnen. Die Schnürbank stand in der Mitte des Raums. Patricia lag darauf, natürlich auf dem Bauch, mit dem Gesicht nach unten. Die beiden Gurte drückten sie fest auf die Auflage. Das kompliziert aussehende Abendkorsett hatte ihre Taille bis auf einen wahrlich zerbrechlich wirkenden Umfang reduziert. Sie trug eine aufwändig hochgesteckte Frisur. Außerdem trug sie bereits die sehr engen langen Abendhandschuhe. Es musste nur noch das Korsett eng genug geschnürt werden, damit das Ballkleid passen würde. Doch trotz der beiden kräftigen Diener, sie trugen Augenbinden, hatte man noch nicht viel erreicht. Der letzte Zentimeter bereitete ihnen große Schwierigkeiten.
Tante Polly ging laut raschelnd zu ihrer Nichte und legte ihre Hand in deren Nacken, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. „Patricia! Was musste ich hören? Du wurdest ohnmächtig?“
„Es tut mir so Leid, Tante Polly“, sagte Patricia mit trauriger Stimme und schnappte nach Luft. „Ich wollte es nicht... Es ist das Korsett... Es ist zu eng.... Ich bekomme keine Luft... 38 Zentimeter sind kein Problem... Aber wenn sie enger schnüren kann ich nicht...“ Sie schniefte und fragte leise: „Kann ich ein Taschentuch bekommen?“
Ihre Tante zog ein Taschentuch heraus, welches sie in ihrem Ärmel versteckt hatte. Sie wischte die Tränen ihrer Nichte weg. „Weine nicht, liebe Patricia. Ich bin sicher, dass es ein gute Ende gibt.“
„Aber wie? Kann man nicht das Kleid etwas weiter machen? Es ist doch nur ein Zentimeter...“
„Patricia, ich werde dir beistehen. Ich hoffte, dass du dich dadurch besser fühlst. Wenn mein Beistand dir nicht hilft, dann etwas anderes... Patricia Quise, wenn ich dir erlaube in Ohnmacht zu fallen, dann nur, weil es eine gute Möglichkeit ist einen jungen Herrn zu beeindrucken. Aber sobald du dies ohne meine Erlaubnis tust, wirst du, wenn wir wieder zu Hause sind, dir wünschen dass du niemals geboren worden bist. Hast du mich verstanden?“
„Vollkommen, Tante Polly“, sagte Patricia ganz leise.
„Also, wie eng wird deine Taille heute Abend geschnürt?“
„37 Zentimeter, Tante Polly“, sagte Patricia pflichtbewusst.
„Sehr schön, Mädchen. Ich werde jetzt zum Tanzsaal hinuntergehen, um den anderen zu sagen, dass du dich ein wenig unwohl fühlst, aber in einer Viertelstunde nachkommst. Auf meinem Wort ist immer Verlass, und ich hoffe dass du mich nicht wegen einer albernen Ohnmacht bloßstellst. Hmm?“
„Nein, Tante Polly. Ich werde nicht ohnmächtig werden.“
„So ist es richtig. Merke dir Eines: Falls du dich während des Balls plötzlich schwach fühlst, darfst du den Tanzsaal verlassen und Braithwaite aufsuchen, damit sie dein Korsett lockern wird, aber nur mit meiner Genehmigung. Wenn ich entschieden habe dass es wirklich notwendig ist, werde ich dir ein Zitat aus Shakespeare mitgeben. So wird Braithwaite wissen, dass ich dir meine Genehmigung gegeben habe. Wenn du es ohne dem Zitat versuchst, wird sie dich ignorieren, selbst wenn du vor ihren Füßen ohnmächtig werden solltest. Ist das klar?“
„Ja, Tante Polly. Ich werde versuchen nicht ohnmächtig zu werden.“
„Das ist richtig. Heute findet ein Ball statt, und du bist hier um zu tanzen. Du darfst trotz dieses Korsett und deines Kleids keinen Tanz auslassen. Du bist die Schönste des Balls, das begehrteste Mädchen. Schließlich erlaubt dir deine Kleidung nichts anderes. Ich habe viel Zeit und Geld investiert um dich soweit zu bringen. Und ich glaube, dass ich den richtig jungen Mann für dich bereits gefunden habe. Wenn du im Tanzsaal erscheinst, widmest du Godfrey Scruttle deine volle Aufmerksamkeit.“
Patricia drehte ihren Kopf zu Seite um ihre Tante zu sehen. „Was muss ich über ihn wissen?“
„Sehr gute Erziehung, Eton- Absolvent, ein Jahr auf der königlichen Universität von Cambridge, wenig Erfahrung mit Frauen, keine Erfahrung mit Ladies. Es dürfte nicht schwer für dich sein ihn zu beeindrucken. Ich weiß, dass er dich wunderbar finden wird.“
„Nach dieser warnenden als auch aufmunternden Predigt drehte sich die Tante um und ging. Als sie fast die Tür erreicht hatte rief Patricia atemlos: „Woher weißt du das?“
Tante Polly hielt inne, drehte sich herum und sagte: „Weil er eng geschnürte Frauen liebt, Patricia.“
Dann ging sie hinaus.

Kapitel Sechszehn

Braithwaite geleitete Patricia bis vor die Tür des Tanzsaales und verließ sie dann. Es gehörte sich nicht für die persönlichen Diener und Zofen der Gäste bei den Feierlichkeiten anwesend zu sein. Nur bei einem Notfall durfte eine Ausnahme gemacht werden.
Patricia machte seit Wochen die ersten Schritte ohne das lästige Korrektionsband an ihrem Hals. Sie musste dem Bedürfnis widerstehen ihren Kopf und Oberkörper bequem, aber undamenhaft hängen zu lassen. Die Luft im Tanzsaal war stickig. Es war eine Mischung aus Zigarrenrauch, Schweiß, Weinbrand und Parfüm. Patricia befürchtete jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Sie legte eine Hand auf ihrem Magen. Dabei fühlte sie nur den steifen Panzer ihres Korsetts. Sie blieb einen kurzen Moment stehen um ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie schaute sich um. Sie sah Herren in eng anliegenden Fracks und makellosen gestärkten Hemden die fast wie Emaille erschienen, oder geschmacklose militärische Uniformen, einige sogar mit unanständig engen Hosen. Patricia erblickte auch viele Frauen in ihren engsten Korsetts. Darüber trugen sie eng anliegende, aber sehr aufwändig verarbeitete edle Kleider. Manche Damen hatten sehr freizügige Dekolletés. Deren Busen waren sehr weit nach oben gedrückt und bewegten sich heftig, da sie sich anstrengen mussten in dem überfüllten Tanzsaal genug Luft zum Atmen zu bekommen.
Patricia suchte in der Menge nach ihrer Tante, und plötzlich sah sie ihr anmutiges schwarzweißes Kleid. Ihre Tante versuchte sich unauffällig an eine Wand zu lehnen, da auch sie sich nicht hinsetzen konnte. Sie redete mit einem jungen Herrn. Er hatte einen langen Hals, einem markanten Adamsapfel, und ein fliehendes Kinn.
Patricia nahm die kurze und helle Licht- Reflektion von Tante Pollys Stiehl- Brille wahr, als diese eine Geste mit der Hand machte. Dann trafen sich ihre Blicke. Sie war viel zu weit entfernt um zu hören was sie sagte. Aber sie konnte sehen, dass ihre Tante mit dem jungen Herrn redete und zweimal mit ihrer Stiehl- Brille in ihre Richtung zeigte. Der junge Mann schaute zu Patricia hinüber und öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber dann blieb sein Mund geöffnet und er starrte Patricia gebannt an. Patricia konnte sehen, dass Tante Polly hinter seinem Rücken voller Befriedigung lächelte. Der junge Herr zuckte plötzlich zusammen, als ob ihn jemand in den Rücken gestoßen hätte. Er sah verwirt aus, doch dann ging er durch den Tanzsaal.
Das war Patricias Zeichen. Er sah nicht sehr kräftig gebaut aus, aber vielleicht war das ein gutes Zeichen. Ein schwacher Mann war vielleicht leichter zu manipulieren. Patricia hatte genug von dem ständigen Herumkommandieren ihrer Tante. Sie empfand die Erziehung nicht als natürlich. Ein netter Durchsetzungsschwacher Ehemann wäre ein Geschenk um endlich ihrer tyrannischen Tante zu entkommen. Patricia versuchte ihn mit einem charmanten Gesichtsausdruck anzuschauen, wie es ihr ihre Tante beigebracht hatte.
Der junge Herr kam näher und starrte sie immer noch sichtlich aufgeregt an. Sie gab ihm Zeit das Gespräch zu beginnen, und als es offensichtlich wurde dass er es nicht konnte, sagte sie: „Guten Abend.“ Patricia machte einen leichten Knicks. Mehr ließ das enge Kleid nicht zu.
Patricia wartete höflich um zu sehen, ob er endlich was sagen würde. Sein Mund öffnete sich, sein Kiefer und die Zunge bewegten sich, aber ohne jegliche Wirkung. Schließlich stammelte er: „Äh...“
Patricia fuhr fort mit ihren gelernten Aufreizungen. Die klimperte leicht mit den Augenlidern und legte ihren Kopf leicht zur Seite. Dann sagte sie: „Wissen sie, dies ist der erster Ball, auf dem ich jemals gewesen bin! Ich bräuchte einen erfahrenen Herrn, der mir zeigt was ich zu tun habe...“
„Ah! Äh...“
„Ich glaube, sie haben meine Tante bereits kennen gelernt. Ich sah wie sie auf mich zeigte. So denke ich, dass eine formale Einführung nicht mehr notwendig ist. Sie müssen Herr Godfrey Scruttle sein, nicht wahr?“
„Ich... äh... ähem... ja.“
Patricia setzte ein verführerisches Lächeln auf und schaute ihn verschämt in die Augen. In jenem Moment fühlte sie sich äußerst hübsch und unwiderstehlich.
„Gut! Meine Tante hat mir von ihnen erzählt. Sie wollte unbedingt dass wir uns kennen lernen. Ich vermute dass sie wissen wer ich bin?“
„Äh, Lady… Lady Patricia Quise.”
„Sehr gut! Jetzt haben wir uns miteinander bekannt gemacht. Können sie mir zeigen was man als Mitglied der höheren Gesellschaft auf einem Ball macht? Darf ich ihren Arm nehmen?“
„Oh, bitte!“, sagte Godfrey Scruttle peinlich berührt, da er sich nicht wie ein Gentleman benommen hatte, und reichte ihr seinen Arm. Patricia berührte ihn mit ihrer Hand, denn mehr konnte sie wegen des engen und steifen Handschuhs nicht machen. Gemeinsam gingen sie durch die Menge.

Im Großen und Ganzen verlief der Abend äußerst gut. Patricia glaubte, dass sie auf dem Streitwagen von Apollo ritt. Nichts konnte sie stoppen, sie war begehrt und unwiderstehlich. Den armen Godfrey Scruttle verdrehte sie gründlich den Kopf, und nur das unendliche Missbehagen ihres Korsetts hielt sie davon ab lauthals zu lachen. Sie gab vor ein unschuldiges Mädchen vom Land zu sein, obwohl sie in Wahrheit die meiste Zeit ihres Lebens in London verbracht hatte. Allerdings hatte sie nicht in der gehobenen Gesellschaft verkehrt, und erst als ihre Mutter verstarb, kam sie auf das ländliche Anwesen ihrer Tante. Sie überzeugte sogar Godfrey, dass sie angeblich nichts über Tanzen oder Verhaltensregeln wüsste, und er ihr alles beibringen müsste. Und das, obwohl sie aufgrund des Drills von Tante Polly alles viel besser wusste und konnte als er. Die hochhackigen Stiefel und der enge Rock konnten sie nicht mehr behindern, aber sie stellte sich bezaubernd ungeschickt an und bat in ständig um Rat. Godfrey erklärte ihr alles und Patricia tat so, als wenn sie nur durch ihn immer geschickter wurde. Schließlich konnte sie ihre volle Fähigkeit enthüllen und mit ihm gekonnt tanzen. Godfrey glaubte am Ziel seiner Träume angekommen zu sein. Immer wieder ertappte sie ihn, wie er sie mit offenem Mund fasziniert anstarrte. Patricia empfand es als eine unattraktive Angewohnheit und dachte dass sie nach der Hochzeit unbedingt dagegen was unternehmen müsste.
Tante Pollys Methoden der Ausbildung trugen Früchte. Die Methoden waren nicht sehr angenehm für die Schülerin, aber umso unterhaltsamer für die Trainerin gewesen.
Jedenfalls half das Training sodass Patricia ihr Lächeln behielt, auch wenn ihr mitunter nicht danach war. Natürlich akzeptierte sie ein paar andere Tänze, nur um kontaktfreudig zu gelten. Sie war begehrenswert, und die jungen Männer waren von ihr fasziniert. Sie tanzte mit einigen anderen jungen Herren, welche reicher, oder höher gestellt, oder schöner als Godfrey waren, aber sie ließ ihn nicht all zu lange allein. Er war ideal. Er würde sie tun lassen was ihr gefiel, weil er von ihrer Grazie und Schönheit viel zu sehr betäubt war um Widerstand leisten zu können. Und genau das wollte sie in einer Ehe haben. Zum ersten Mal war sie mit ihrer Tante einer Meinung. Godfrey war eine gute Wahl.

Trotz aller Glücksgefühle gab es etwas, auf das ihre Tante sie nicht vorbereitet hatte. Sie hatte ihr nie gesagt wie lange ein Ball andauern konnte. Tante Polly hatte als Vorgeschmack für einen Ball sie mehrmals bis nach Mitternacht wach gehalten und Übungen mit ihr gemacht. Aber nun war es schon vier Uhr morgens. Patricia hatte einige Gläser Champagner getrunken und unzählige Tänze und Gespräche geführt. Doch der Ball war gerade erst auf dem Höhepunkt und würde noch lange dauern. Patricias Füße schmerzten in den steilen und engen Stiefeln. Ihr Körper schmerzte in dem unbarmherzig eng geschnürten Korsett. Sie brauchte unbedingt eine Erholungspause. „Würden sie mich bitte entschuldigen?“, sagte sie liebevoll zu Godfrey, und schwankte durch die Tanzpaare hindurch zu der Tür, wo sie wusste dass dort Braithwaite auf sie warten musste.
Die ältere Zofe war, wie erwartet, dort. Sie lief die ganze Zeit auf dem Flur auf und ab. „Was ist los, Lady Patricia?“
„Braithwaite, ich muss eine Pause einlegen. Ich befürchte sonst ohnmächtig zu werden. Schnür mich bitte auf.“
Braithwaite presste ihre Lippen zusammen. „Haben sie die Genehmigung ihrer Tante?“
„Würde ich fragen, wenn ich keine hätte?“
„Ja, sie würden. Sie müssen einen Vers aus ‚The Winter’s Tale’ aufsagen. Wie heißt er?“
Patricia versuchte sich an ihren Shakespeare- Unterricht zu erinnern. Doch es fiel ihr nichts ein... „Ich weiß! Es wohnt ein Mann auf dem Kirchhof.“
„Nein, das ist es nicht.“
„Äh, Ausgang, von einem Bären nachgegangen?“
„Miss Patricia, das ist kein Vers, sondern eine Bühnen- Anweisung! Sie wissen es nicht, nicht wahr?“
Patricia ließ ihren Kopf hängen. „Nein...“
„Wusste ich es doch! Wenn sie wirklich der Meinung sind dass ihr Korsett gelockert werden muss, dann gehen sie zu ihrer Tante und bitten sie um Genehmigung. Danach kommen sie zurück und sagen mir, was sie gesagt hat. Ich werde dann wissen ob sie wirklich aufgeschnürt werden dürfen. Gehen sie jetzt wieder bitte und seien sie höflich. Ignorieren sie nicht die Leute.“
„Ganz bestimmt nicht...“ Patricia ging wieder in den Tanzsaal zurück, um ihre Tante zu suchen. Sie hoffte unerkannt zu ihr durchzukommen. Aber kaum hatte sie den Tanzsaal betreten, war auch schon Godfrey wieder an ihrer Seite.
„Patricia, sie waren aber lange fort!“
„Nur zwei Minuten“, antwortete Patricia leicht gereizt.
„Es schien wie eine Ewigkeit zu sein! Bitte verlassen sie mich nicht mehr!“
Patricia musste ihr Temperament beherrschen, denn ihre gute Laune wurde von dem engen Korsett zunichte gemacht. Sie versuchte zu lächeln und sagte: „Godfrey, bitte. Ich fühle mich ein bisschen schwach, und ich muss mit meiner Tante darüber sprechen. Dann könnte es sein, dass ich eine Zeitlang abwesend bin. Ich habe aber vor zum Ball zurückzukommen, sobald ich mich wieder besser fühle. Wenn sie so nett wären, ich muss jetzt mit meiner Tante ein privates Gespräch führen.“
„Natürlich!“ Er trat sofort einen Schritt zur Seite.
Patricia ging sichtlich erleichtert durch den Tanzsaal zu ihrer Tante. Diese plauderte gerade angeregt mit einem stattlichen Marineoffizier. Er hatte das Gesicht eines Seebären und seine breite Brust schmückten ein langer Bart sowie eine prächtige Ordenssammlung. Sein flacher Bauch unter seiner eng anliegenden Offiziersjacke ließ die Vermutung aufkommen, dass nicht nur Frauen Korsetts trugen. Als Patricia Tante Pollys heiteren Gesichtsausdruck und ihr heiteres Lächeln sah, konnte sie sich fast nicht mehr vorstellen welch grimmige Person sie war. Keine zweite Frau in jenem Raum hätte eine solch brutale Kombination aus engem Korsett und Humpelrock besser bewältigen können, und noch dazu fröhlich aussehen, als sie.
„Tante Polly, ich bitte um Entschuldigung... darf ich dich kurz privat sprechen?“
„Gleich. Admiral, das ist meine Nichte Lady Patricia Quise, Tochter des Grafen Albert Quise und Miss de la Coudière. Es oblag mir sie zu erziehen, da ihre Mutter verstorben ist, das arme Kind. Dies ist ihr erster Ball. Ich glaube, dass sie ein wenig Erfolg hat. Patricia, das ist Admiral Sir Sebastian Gastell, ein Seemann von Format.“
„Ich bin sehr erfreut sie kennen zu lernen, Admiral“, sagte Patricia mit einem hübschen Lächeln, ganz so wie es ihr die Tante eingetrichtert hatte.
Sie bot ihm ihre Hand an, und der Admiral zog sie zu seinen Lippen und deutete einen Kuss auf ihrem makellosen Handschuh an. „Und ich bin erfreut sie zu sehen, Lady Patricia“, sagte er. „Obwohl es ein Verbrechen ist, ihre herrliche Gesellschaft jetzt zu verlassen, muss ich mich doch ihrer Bitte beugen, damit sie mit ihrer Tante reden können. Ich hoffe wir sehen uns später wieder.“ Er verbeugte sich leicht und Patricia hörte das gleiche Knarren, wie sie es von Braithwaite kannte, wenn diese sich beugen musste. Dann ging er mit forschem Schritt fort.
„Und?“, fragte Tante Polly. Ihr heiteres Lächeln blieb eingefroren in ihrem Gesicht, damit niemand sehen konnte wie sehr sie sich ärgerte. „Was gibt es?“
„Tante Polly, ich werde bald ohnmächtig.“
„Nein, das wirst du nicht.“
„Aber doch! Ich bin noch nie in meinem Leben so lange wach gewesen, und ich bin erschöpft. Ich kann nicht mehr lange stehen. Ich habe mir mit Godfrey große Mühe gegeben und ich weiß dass er beeindruckt ist. Aber ich kann es nur noch ein paar Minuten aushalten. Du musst mich einfach etwas aufschnüren und ruhen lassen, oder ich werde ohnmächtig.“
„Patricia, wenn du dafür sorgen könntest dass du in seinen Armen ohnmächtig wirst, wäre das von großem Vorteil für dich.“
„Ich traue ihm aber nicht zu dass er mich auffangen kann, Tante Polly, und wenn er es vermasselt, würde ich sicherlich beim Fallen mein Kleid zerstören. Das wäre eine große Blamage für mich, wenn mein Kleid hier im Saal zerreißen würde.“
„Hmm.“ Tante Polly nahm Patricias Hand und drückte sanft auf ihr Handgelenk. Das Leder der Handschuhe beider Frauen war so dünn und eng anliegend, dass sie den Puls ihrer Nichte trotz der beiden Lederschichten fühlen konnte. Sie fühlte ihn eine Zeitlang und schaute dabei ihrer Nichte in die Augen. Dann sagte sie: „In Ordnung. Du darfst gehen. Kennst du ‚The Winter’s Tale’?“
„Nicht richtig...“
Du musst Braithwaite einen Vers daraus sagen. Komm näher.“
Patricia stellte sich ganz nah an ihre Tante, welche ihr etwas ins Ohr flüsterte. „Verstanden?“
„Ich danke dir, Tante Polly.“
„Ist schon gut. Du bist heute Abend ein wirklich gutes Mädchen gewesen. Ich glaube nicht dass wir weitere Bälle besuchen müssen um von dem jungen Godfrey einen Heiratsantrag zu bekommen. Das wird schnell gehen. Ich will dich so bald wie möglich aus meinem Haus heraus bekommen.“
„Das will ich auch, Tante Polly. Ich freue mich darauf.“
Tante Polly schnaubte verächtlich. Sie hatte sich stets geärgert wenn ihre Nichte ihre Pläne zunichte machte, aber sie begriff auch, dass sie gerade selber sehr grob zu ihrer Nichte gewesen war. „Gehe jetzt. Wenn du schon kurz vor einer Ohnmacht stehst, solltest du den Tanzsaal so schnell wie möglich verlassen.“
„Das werde ich.“ Patricia machte sich auf dem Weg.
Der Tanzsaal war groß, und es war ein langer Weg in einem engen Rock und mit hochhackigen Stiefeln. Sie versuchte einen Weg zwischen den Tanzpaaren zu finden, doch sie musste einen großen Umweg um die Tanzfläche herum wählen. Sofort war Godfrey wieder an ihrer Seite. Und mit dem ihn eigenen Mangel an Taktgefühl sagte er: „Lady Patricia! Ich habe sie furchtbar vermisst. Darf ich das Vergnügen haben und mit ihnen den nächsten Tanz wagen?“
„Nein, Godfrey, ich befürchte nicht. Ich fühle mich wirklich ziemlich unwohl...“
„Oh, das tut mir Leid!“, unterbrach er Patricia.
„...sehr unwohl, und meine Tante hat mir die Erlaubnis gegeben den Tanzsaal zu verlassen, damit ich mich in meinen privaten Gemächern ausruhen kann. Ich befürchte dass ich nicht zurückkommen werde. Sie wissen, dies ist mein erster Ball, und es ist jetzt ein bisschen viel für mich. Ich bin aber sicher, dass ich sie auf einen der anderen Bälle wieder sehen werde.“
„Oh, das hoffe ich doch sehr!“
„Ich danke ihnen, Godfrey.“
Sie hatten die Tür erreicht. Die Tür war einen Spalt weit geöffnet und Patricia konnte sehen wie Braithwaite durch den Türspalt schaute.
„Jetzt muss ich sie verlassen. Gute Nacht.“ Einer plötzlichen Eingebung folgend, legte sie ihre Hände vorsichtig um seinen Körper und zog ihn zu sich heran, um ihn einen sanften Kuss auf die Wange zu geben. Dann eilte sie schnell durch die geöffnete Tür und schloss sie hinter sich zu.
„Miss Patricia!“, sagte Braithwaite sichtlich schockiert. „So etwas gehört sich nicht!“
„Oh, ich glaube nicht dass es schlimm war“, sagte Patricia erschöpft. „Er ist viel zu sehr in mich verliebt, um über jene Art von Ungehörigkeit beunruhigt zu werden. Jetzt wirst du mich aufschnüren.“
„Sie haben die Genehmigung von Miss de la Coudière?“
„Ja, und sie sagte mir, ich soll dir folgendes sagen: ‚Oh, zerschneide die Schnur, denn ich befürchte, alles wird brechen, schon bald’.“
„Gut, Kommen sie.“
Als sie mit kleinen Schritten über den Marmorboden des langen Flures schritten, schaute Patricia die ältere Zofe an und sagte: „Ich bin überrascht. Ist das wirklich von Shakespeare?“
„Es ist“, sagte Braithwaite außer Atem, denn sie bekam nicht genug Luft um gleichzeitig gehen und sprechen zu können.
„Lustig... Ich wusste nicht, dass es Korsetts bei Shakespeare gab. Das heißt nicht, dass ich nicht weiß dass es zu seiner Zeit Korsetts gab, aber ich wusste nicht, dass man sie in sein Schauspiel einbezogen hat. Ich bin auch sehr überrascht darüber, dass Tante Polly sich an dieses eine Zitat aus all seinen vollständigen Arbeiten erinnern kann.“
„Ihre Tante, Miss“, sagte Braithwaite als sie die Tür zu Patricias Gästezimmer öffnete, „eine sehr gebildete Dame. Und sie hat den Ehrgeiz und die Fähigkeit alles zu wissen, was mit Korsetts zu tun hat.“

Eine halbe Stunde später lag Patricia, nur noch mit Unterwäsche und Korsett bekleidet, auf der Schnürbank. Sie hätte es lieber vorgezogen auf dem Bett zu liegen, aber Tante Polly war ebenfalls erschienen. Und da ihre Tante nicht fähig war zu sitzen, hatte sie das Bett beschlagnahmt um sich selber ausruhen zu können. So musste Patricia mit der einzigen anderen Ruhestätte vorlieb nehmen. Immerhin trug sie nicht mehr das enge Kleid und ihr Korsett war etwas gelockert worden. Endlich konnte sie einigermaßen frei atmen, jedenfalls besser als zuvor. Man hatte am Morgen begonnen sie in ein normales Korsett zu schnüren, natürlich so eng wie möglich. Dann waren sie zu jenem großartigen Haus gefahren und man hatte begonnen sie in das neue Ballkorsett zu schnüren. Ein Korsett das enger als all ihre anderen Korsetts war und so lang, dass sie sich nicht mehr hinsetzen konnte.
Da das Lockern des sehr eng geschnürten Korsetts sehr lange dauern würde, ging Tante Polly noch einmal zum Tanzsaal zurück.

Schließlich war Braithwaite der Meinung dass das Korsett komplett gelockert werden konnte. In jenem Moment kam Tante Polly wieder herein, um nach ihrer Nichte zu schauen. Sie gab Patricia die Erlaubnis den Rest des Balles zu versäumen.
„Du hast das ganz gut gemacht“, sagte sie. „Vor allen Dingen, wenn man bedenkt welche schlechten Start du ins gesellschaftliche Leben hattest. Ich glaube, du hast auf den jungen Godfrey Scuttle einen guten Eindruck gemacht. Er ist immer noch ganz verzückt von dir und beachtet keine der anderen jungen Damen. Ein weiterer Ball, und ich glaube, dass du es geschafft hast. Jetzt, Braithwaite, hilf mir bitte auf das Bett.“
Während sie sich entspannten, fragte sich Patricia wann endlich ihre gequälte Taille von dem immer noch engen Korsett befreit werden würde. Sie freute sich sogar auf das normale Abendkorsett, welches sie für die Fahrt zum Hotel tragen müsste.
Da klopfte es an der Tür und Braithwaite trippelte hin, um die Tür einen Spalt weit zu öffnen. Sie sprach kurz mit jemand und nahm etwas in Empfang. Dann schloss sie wieder die Tür. „Eine Nachricht“, sagte sie. Mit vor Missbilligung triefender Stimme fuhr sie fort: „Für Lady Patricia Quise.“
„Bringe es her“, befahl Tante Polly, welche auf dem Bett lag.
„Aber...“, sagte Patricia zaghaft. Der Blick ihrer Tante lies sie jedoch verstummen.
Braithwaite gab der Tante die Nachricht, und sie las schweigend. Dann sagte sie: „“Gut, Patricia, es sind gute Nachrichten. Der junge Godfrey, von dem ich sagen muss dass er ein schwaches Individuum ist, hat dies gesandt um zu fragen ob du bereit bist ihn zu heiraten. Er schreibt, dass er die Erlaubnis seiner Eltern hat dich zu fragen. Ich denke dass du bereit dafür bist. Er möchte dass du mich um Erlaubnis bittest seinem Antrag zuzustimmen. Er scheint es nicht für Wahrscheinlich zu halten dass du ablehnen könntest. Du hast es also sehr gut versanden ihn zu bezaubern. Ich bin sehr zufrieden mit dir. Braithwaite! Gehe und suche Godfrey Scruttle. Sage ihm, dass Lady Patricia seinen Vorschlag akzeptiert und dass ihr Vormund ihren Segen gegeben hat. Beeile dich! Und dann können wir endlich ins Hotel um uns auszuruhen.“
„Ja, Madame.“ Braithwaite machte ihren Knicks und ging schnell hinaus.
„Patricia, ich muss dir gratulieren.“
„Vielen Dank, Tante Polly. Ich hatte mich an das erinnert, was du mir beigebracht hattest. Du hattest gesagt, dass man einen jungen Herrn so behandeln soll, als wenn er der einzige Mann im Raum ist. Und dann hattest du noch gesagt, dass Männer dies sowieso von sich denken. Das habe ich mir zu Herzen genommen und es hat wunderbar gewirkt.“
„Ja... Aber natürlich. Das ist einfach unvermeidlich. Dir dürfte aber auch aufgefallen sein, dass Godfrey keiner eng geschnürten Taille widerstehen kann. Für ihn ist es das Hauptmerkmal von weiblicher Schönheit. Ich wusste, dass es bei ihm wirken würde. Ich hoffe dass er seine Meinung nicht mehr ändern wird... Das wäre niederträchtig, und wir könnten ihn auf Wortbruch verklagen. Nein, du bist ihm sicher. Bist du glücklich?“
Patricia war ziemlich verwirrt über diese Frage. Ihre Tante hatte ihr bis zu jenem Tag stets den Eindruck vermittelt als wenn ihr dies egal wäre. „Ja, das bin ich. Du hast immer gesagt dass ich niemals in dein Heim gepasst habe, und ich denke dass es das Beste ist, wenn ich ein eigenes Heim bekomme. Ich werde Marjorie mit mir nehmen, und vielleicht können wir etwas von der Lebensweise wiedererlangen, das ich bei meiner Mutter hatte.“ Kaum hatte Patricia diese Worte ausgesprochen, bemerkte sie, dass sie was Falsches gesagt hatte, aber es war zu spät.
„Ich würde das nicht tun, wenn ich an deiner Stelle wäre, Patricia. Du würdest aus der Gesellschaft verbannt werden, wie deine Mutter, und dein Ehemann ließe sich wahrscheinlich von dir scheiden. Du weißt was mit deiner Mutter geschehen ist. Du musst fortfahren mit dem, was ich dich gelehrt habe. Du musst ihn bei Laune halten, stets darauf achten dass dein Korsett eng geschnürt bleibt, und er sich glücklich fühlt. Marjories ist ein schlechter Einfluss für dich. Ich glaube dass wir sie entlassen sollten.“
„Oh, nein! Wenn du das tust, werde ich sie dennoch finden und nach meiner Hochzeit bei mir einstellen.“
„Ich nehme an, dass ich dich nicht daran hindern kann... Wie dem auch sei, auch wenn ich nicht mehr bei dir sein kann um auf dich aufzupassen, musst du dennoch dein jetziges Niveau aufrecht halten.“
„Ich werde dies berücksichtigen“, sagte Patricia, und nahm sich vor ihr gegenüber nie mehr derartige Gedanken zu äußern.

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