Miss Badsteel wartet in ihrem Zimmer. Sie wirkt noch steifer als gewöhnlich. Sie steht hinter ihrem Schreibtisch, mit dem Rücken zur Wand. Sie trägt ein dunkelbraunes Wollkostüm, dessen Jacke fest auf ihrer schmalen Taille anliegt. Ihre Arme hängen gerade an den Seiten herunter, aber immer wieder spreizt sie nervös ihre Finger. Sie schaut stur geradeaus. Ihre Kopfhaltung sieht hochmutig aus, denn ihr Kopf wird wegen des steifen und hohen ‚Würgekragens’ etwas angehoben. Sie hat Mühe schlucken zu können. Sie wartet offensichtlich auf etwas oder auf Jemand.
Hinter ihr, auf der anderen Seite der Wand, wo sich der Schrank für Schreibwaren befindet, warten derweil Gertie, Netta und Giuliana.
Giuliana hatte einen großartigen Einfall, der sofort mit all seinen Folgen in die Tat umgesetzt wurde.
Jetzt haben die Mädchen die Kontrolle über Muss Badsteels Taille, eine wahrhaft strenge Kontrolle! Miss Badsteel kann weder etwas dagegen unternehmen, noch ahnen was und wann etwas geschehen könnte.
Am Vortag hatten die Mädchen vom Hausmeister ein Loch in die Wand bohren
lassen, etwas höher hinter Miss Badsteels Schreibtisch. Vorher musste der Mann
die Papiere und die Holzbretter aus dem Schrank entfernen, damit ausreichend
Platz geschaffen werden konnte. Als letzten Akt ließen sie ihn zwei Metallhaken
an der Wand montieren. Die gleichen stabilen Haken wie im Tanzsaal, um dort die
Seile für die Lampen zu sichern.
Dann begaben sich Gertie und Giuliana daran die Rückenteile von Miss Badsteels
brauner Anzugsjacke sowie ihrer gerüschten Spitzenbluse zu modifizieren. Sie
schnitten dort Löcher hinein, genau auf Höhe der Taille. Anschließend vernähten
sie die Löcher, damit die Stoffe nicht ausfransen würden. Netta hatte eine
zusätzliche Idee, und so nähte Giuliana die Ärmel von den Schultern bis zu den
Ellenbogen an der Jacke fest. Netta hatte gesagt: „Es ist nicht gut, wenn sie
mit den Armen zuviel Bewegungsfreiheit hat.“
Alle Vorbereitungen sind abgeschlossen. Unter dem braunen klassischen Kostüm trägt Miss Badsteel das fürchterliche schwarze Lederstrafkorsett, in dem sie normalerweise Mädchen einsperrt, welche ihrer Meinung nach einen Fehler begangen haben. Die Korsettschnur ist aber nicht wie gewohnt geschnürt. Die Enden führen jetzt durch die Löcher ihrer Kleidung und dem Loch in der Wand zum anderen Raum hinüber. Dort ist die Korsettschnur an den beiden Wandhaken gesichert. Jederzeit können Netta und Giuliana an der Schnur ziehen und somit Miss Badsteels Taille noch enger schnüren. Das Gleiche geschieht, wenn Miss Badsteel sich von der Wand entfernen will. Hinter den beiden Mädchen steht Gertie, die treibende Kraft des Mädchen- Aufstands, und belauscht das Gespräch der Schulleiterin. Falls nötig wird sie den anderen beiden ein Zeichen geben, damit diese an der Korsettschnur ziehen. Miss Badsteel steht wie festgenagelt an der Wand. Sie kann nicht einmal ihren Schreibtisch erreichen um eine geheime Nachricht zu schreiben.
„Disziplin“, hatte Gertie ihr frech gesagt, als sie die Schulleiterin an der Wand positionierte, „ist sehr wichtig. Das haben sie uns ja immer wieder gesagt.“
Es klopft an der Tür. Da Miss Badsteel ihren Kopf nicht mehr als fünf Grad
drehen kann, verdreht sie ihre Augen. Sie kann soeben die Tür erkennen.
„Ja?“
Sie vernimmt die Stimme einer Magd. „Herr Godfrey Scruttle möchte sie sehen,
Madame.“
„Ich erwarte ihn. Schicken sie ihn bitte herein.“
Die Mädchen stehen angespannt hinter ihr im Schrank, als sie hören wie eine Tür
sich öffnet und schwere männliche Schritte den Raum durchqueren. Netta
erschaudert, denn sie erkennt die Schritte ihres Vaters.
„Guten Morgen, Herr Scruttle“, vernehmen sie Miss Badsteels Stimme. „Setzen sie
sich bitte hin.“
„Nein, nein, nach ihnen“, antwortet Godfrey Scruttle, wie es sich für einen
Gentleman gehört.
„Ich, äh, ich ziehe es vor zu stehen“, sagt Miss Badsteel.
„Warum?“, fragt Godfrey mit neugierig klingender Stimme.
„Also, ich befürchte, äh, mein Korsett erlaubt mir heute keine derartigen
Bewegungen.“
Das ist mehr als die Wahrheit! Die drei Mädchen im Schrank kichern ganz leise und stoßen sich an. Dann ziehen sie leicht an der Korsettschnur.
„Dann wäre es unhöflich von mir mich hinzusetzen. Darf ich beginnen, Miss
Badsteel?“
„Ich bitte darum. Ich nehme an, es geht um Netta?“
„In der Tat. Ihre Briefe, die sie nach Hause schickt... sie haben sich
verändert. Seitdem sie hier ist, schrieb sie bis vor einem Monat stets
Beschwerden über ihr Figurtraining. Halten sie das jetzt bitte nicht für eine
Kritik! Ich war immer erfreut zu lesen, was sie alles mit ihr anstellten. Es ist
eine Familientradition, wir glauben dass Mädchen so eng wie möglich geschnürt
werden sollten. Außerdem kann man nicht früh genug damit anfangen. Netta wurde
diesbezüglich niemals vernachlässigt, wie es mit ihrer Mutter einst geschehen
ist. Wir wollten nicht dass bei ihr der gleiche Fehler getan wird und sorgten
dafür dass sie einen guten Anfang bekommt. Ich wusste dass sie hier hart daran
arbeiten das Beste aus jedem Mädchen heraus zu holen. Wenn sie angefangen hätte
darüber zu schreiben, dass sie das Training genießen würde, wäre es sehr schön
gewesen. Aber sie hat aufgehört darüber zu schreiben. Gibt es etwa Probleme bei
der Ausbildung?“
Im Schrank hämmert Netta das Herz bis zum Hals. Sie wirft einen erschreckten
Blick auf Gertie, die ruhig wie immer hinter ihr steht. Gertie klopft ihr
beruhigend auf die Schulter. Dann ballt sie die Fäuste und gibt ein Zeichen. Die
anderen zwei Mädchen wissen, was es bedeutet. Sie lösen schnell die
Korsettschnur von den Haken und ziehen stark an der Schnur. Nicht sehr stark und
hastig, aber dennoch stark genug um Miss Badsteel zum Keuchen zu bringen. Das
soll sie daran erinnern, wer das Sagen hat.
„Netta ist eine beispielhafte Schülerin“, vernehmen sie Miss Badsteels Stimme,
welche aber wesentlich kraftloser klingt. „Sie und ihre zwei Freundinnen,
Gertrude Fitzcollins und La Contessa Giuliana di Fioretti, haben mir in der
Vergangenheit viel Mühe gemacht, aber sie haben jetzt die Angelegenheiten fest
in die Hand genommen und alles ist unter ihrer Kontrolle.“
Giuliana schaut Gertie an. Dabei hebt sie fragend ihre Augenbrauen. Gertie
versteht ihre Geste und nickt. Sofort wird stark an der Korsettschnur gezogen.
Augenblicklich scheint Miss Badsteel sich zu besinnen und sagt: „Wenn sie
aufgehört hat über ihr Korsett oder das Training zu schreiben, müssen wir
annehmen dass sie gelernt hat sich damit...“
„Geht es ihnen gut?“, fragt Godfrey mit einem seltsamen Klang in der Stimme.
„Meine Gesundheit ist so wie sie sein sollte.“
„Warum gestikulieren sie dann so?“
„Gestikulieren? Ich weiß nicht worüber sie sprechen, Herr Scruttle.“
„Sie bewegten ihre Hände so, als ob sie mich zu ihnen heranwinken wollten, und
jetzt halten sie ihre Hände abwehrend...“
Die drei Mädchen haben den gleichen Gedanken und ziehen sofort ganz stark an der
Korsettschnur, sodass es laut knarrt. Miss Badsteels Keuchen ist sogar in dem
anderen Zimmer zu hören.
„Was wollen sie mir sagen, Miss Badsteel?“
„Enger!“, zischt Gertie, und die beiden anderen Mädchen müssen jeweils ein Knie
gegen die Wand stemmen, da sie mit aller Macht an der Korsettschnur ziehen. Sie
hören wie Miss Badsteel ein schmerzhaftes Grunzen von sich gibt, da ihr fast die
ganze Luft aus den Lungen gedrückt wird. Nach einer kurzen Weile, die
Schulvorsteherin hat sich wieder einigermaßen gesammelt, sagt sie atemlos: „Ich
denke... Ich hätte wohl besser... nicht darüber gesprochen. Mein Korsett... es
scheint... zu eng... Ich kann auch kaum sprechen.“
„Verdammt! Sie will das Gespräch beenden“, flüstert Gertie.
Netta schüttelt ihren Kopf und nickt Richtung Wand. Sie flüstert: „Halte den
Mund und höre zu.“
Sie hören lange Zeit nichts. Dann vernehmen sie wieder Godfreys Stimme, und er
hört sich ganz anders an: „Sicher. Miss Badsteel, auch wenn sie zu eng geschnürt
wurden und deswegen nicht sprechen können, möchte ich dennoch die Chance
ergreifen ihnen etwas zu sagen, dass ich ihnen schon seit zwanzig Jahre sagen
wollte.“
„Ich verstehe nicht“, sagt Miss Badsteel mit kraftloser Stimme.
Wieder ist es lange Zeit still.
Dann beginnt Godfrey mit leiser, aber gefühlsvoller Stimme: „Mein Vater, er
bestand immer auf Vervollkommnung. Meine Mutter und meine jüngeren Schwestern
wurden in Korsetts geschnürt als sie alt genug dafür waren. Es war für mich
damals wunderbar, umgeben zu sein von all diesen eng geschnürten weiblichen
Wesen. Dann verkündete mein Vater dass die Mädchen persönliche Ausbildung
bräuchten, und dass er eine junge Gouvernante einstellen wollte. Eine
Gouvernante, die ebenso leidenschaftlich über Korsetts dachte wie er. Sie sollte
willensstark sein und alles aus seinen Töchtern herausholen. Ich war von der
Idee einer hart schnürenden Gouvernante sehr angetan und sehnte mich nach dem
Tag, an dem sie ankommen würde, um meine jüngeren Schwestern fest in die Hand zu
nehmen. Und dann erschien jene Gouvernante, und jene Gouvernante waren sie.“
„Natürlich“, krächzt Miss Badsteel. „Ich war dort.“
Godfrey lächelt. „Sie sind sehr zurückhaltend, und dennoch freut es mich bei
ihnen zu sein! Sie müssen wissen, dass ich mich mein Leben nach einer Person
gesehnt habe, einer Person wie sie es sind. Ich hätte sie so gerne geheiratet,
aber meine Eltern erlaubte es nicht. Meine Eltern bestanden darauf jemand aus
einer guten Familie zu heiraten, einer reichen Familie... Oh, ich denke dass ich
Patricia liebe, und sie schnürt ihre Taille sehr eng, schön aussehend, aber
nicht mit dem Antrieb, den sie immer an den Tag gelegt haben. Sie sind
diejenige, von der ich immer geträumt habe. Sie sind diejenige, die ich immer
haben wollte.“
Im Schrank flüstert Gertie: „Hast du das gewusst, Netta?“
„Auf gar keinen Fall“
Durch die Wand dringt eine auf alle schwer lastende Stille. Möglicherweise
schauen sich die beiden gerade voller Emotionen an. Nichts ist zu hören. Dann
fängt Godfrey wieder an zu sagen: „Miss Badsteel, niemand wird uns hier stören.
Ich weiß wie sehr sie ihren Stab und die Schülerinnen dominieren und das alle
Angst vor ihnen haben. Wir sind jetzt endlich wieder seit so langer Zeit
zusammen. Sie wollten doch nicht dass ich für weitere drei Jahrzehnte mich
vergebens nach ihnen sehne, oder?“
Wieder ist es still. Man hört lediglich Schritte.
„Herr Scruttle“, krächzt Miss Badsteel, „erinnern sie sich bitte, dass sie ein
Gentleman sind!“
„Ich bin ein Gentleman, und das bedeutet, dass ich mich zu benehmen weiß. Aber
bedenken sie bitte, dass es auch bedeutet dass ich ein Mann bin, Corinna.“
Die Schritte nähern sich, und die Korsettschnur bewegt sich, als ob Miss
Badsteel daran zappelt. Die Schritte bleiben stehen, und es entsteht eine
unangenehme Pause. Dann sagt Godfrey: „Oh, Corinna, ihr Korsett ist sooo eng!“
„Ja“, sagt Miss Badsteel. Sie hat Schwierigkeiten zu sprechen. „Das IST es.“
Innerlich hofft sie dass die Mädchen auf der anderen Seite der Wand
Schuldgefühle bekommen, aber ihre Hoffnung wird zerschlagen.
Gertie macht eine weitere Geste, und die Korsettschnur wird mit einem Ruck angezogen, damit die Schulleiterin nicht vergisst wer das Sagen hat. Gertie ist aufgeregt. Sie ahnt, dass sie kurz vor dem großen Geheimnis des Erwachsenenalters steht. Außerdem genießt sie das Gefühl der Kontrolle über Miss Badsteel, welche ihrerseits es ebenfalls genossen hat Gertie den Qualen des Strafkorsetts auszusetzen.
Godfrey redet weiter. Seine Stimme füllt sich mit Entzücken: „Ich fühlte
immer, dass es kein größeres Vergnügen gibt, als mit einer Dame zusammen zu
sein, deren Korsett sehr eng geschnürt ist... Ihr Korsett, es ist wirklich zu
eng geschnürt, nicht wahr?“
„Ja, das ist es...“, keucht Miss Badsteel.
In diesem Moment sind sich die Mädchen sicher, dass die Schulvorsteherin jeden
Moment ohnmächtig werden könnte.
„Ich fürchte, sie fällt gleich um!“, sagt Netta.
„Sollen wir es lockern?“, fragt Giuliana ganz leise.
„Nein!“, zischt Gertie zurück. „Wenn sie umfällt, tun wir das, was wir
vereinbart haben. Zieht fester!“
Und so ziehen die Mädchen heftig an der Korsettschnur.
Miss Badsteel gibt ein röchelndes Keuchen von sich.
„Ah“, sagt Godfrey, und seine Tochter kann den Teufel in seiner Stimme hören.
„Sie wollen mich ebenso sehr wie ich sie, nicht wahr? Hier und Jetzt!“
Und dann hören die Mädchen wie er die Schulvorsteherin küsst.
„Herr Scruttle... bitte...“
„Sie wissen genau dass sie es wollen, sonst würden sie mir entfleuchen.“
„Bitte! Herr Scruttle! Warten sie bitte damit bis zum Ball!“
„Sie können mich ruhig Godfrey nennen.“
„In Ordnung. Godfrey, bitte, nicht jetzt. Nach dem Ball.“
„Nein, ich kann nicht warten. Dann können wir nicht allein sein. Jetzt sind wir
allein, und ich habe nicht vor meine Chance nach all diesen Jahren zu
versäumen!“
Miss Badsteel keucht verzweifelt. Durch das Loch in der Wand hören die Mädchen
wie die Korsettschnur laut knarrt, als wenn sie kurz vor dem Zerreißen stände.
Die Schnur, als auch das Korsett sind bis zum Zerreißen gespannt.
„Herr Scruttle, ich werde gleich ohnmächtig werden!“
„Dann werde ich sie in meinen Armen auffangen.“
„Nein, nein, das wäre eine Katastrophe“, keucht sie. „Wenn ich ohnmächtig werde,
verliere ich meine Selbstkontrolle. Und wenn ich diesen Fehler mache, wird mein
Korsett bersten! Sie wollen das doch nicht geschehen lassen, nicht wahr? Ich,
ohne mein Korsett?“
Diese Worte bringen ihn in die Realität zurück. „Nein, sie haben Recht. Ich
nehme an, dass ich gehen sollte.“
Das rasende Keuchen geht weiter, während die Schritte den Raum durchqueren. Dann
bleibt er stehen. „Eine Frage. Warum gingen sie damals so plötzlich? Es brach
mein Herz... Ich habe mich niemals davon erholt.“
„Das...“, sagt Miss Badsteel, „ihr Vater hat mich schwören lassen niemanden
davon zu erzählen.“
Wieder entsteht eine drückende Pause, und die drei Mädchen wünschen sich dass
sie die Gesichtsausdrücke der zwei Erwachsenen in dem anderen Raum sehen
könnten. Dann öffnet sich die Tür und die Schritte werden leise.
Mehrere Minuten lang bleiben die Mädchen still stehen und lauschen. Alles, was sie hören können, ist das Knarren von Miss Badsteels Strafkorsett, während sie nach Luft ringt. Schließlich sind die Schritte von Godfrey Scruttle nicht mehr zu hören. Die Mädchen, als auch Miss Badsteel wissen, dass sie sich erst wieder bewegen können, wenn er wirklich außer Hörweite ist. Die Schritte werden schwächer und schwächer, und dann hören sie wie eine weitere schwere Tür geschlossen wird. Godfrey Scruttle hat das Gebäude verlassen.
„Mädchen, bitte“, hören sie eine kaum wahrnehmbare Stimme. „Lassen sie mich
gehen! Bitte!“
„Sollen wir?“, sagt Gertie.
„Wir müssen ihr Korsett etwas lockern“, antwortet Netta. „Ich will nicht, dass
sie ohnmächtig wird. Sie wird uns noch einige Fragen beantworten müssen.“
Die einst so grausame und selbstsichere Schulvorsteherin, die sie hassten, existiert nicht mehr, als die Mädchen das Büro betreten. Sie finden eine ältere Frau vor, welche in einem viel zu engen Kostüm und einem viel zu engen Korsett nach Atem ringt. Ihr Gesicht ist rot angelaufen und vereinzelte Tränen laufen über ihre rosigen Wangen. Irgendwie hatten alle angenommen, dass Miss Badsteel ohne jene Art von Emotion geboren wurde, blind und taub für die Gefühle anderer Menschen. Die Mädchen sind betroffen, als sie sehen wie die Frau weint. Den Mädchen kommt es so vor als wenn in dem Raum die Sonne aufgeht. Sie erscheint ihnen in einem völlig neuem Licht. Sogar Gertie bekommt für einen kurzen Moment Mitleid mit der Frau. Sie will nicht jemanden bestrafen, der so verletzlich aussieht. Doch dann erinnert sie sich warum sie den Aufstand gegen Miss Badsteel angeführt hat. Sie will das Ruder nicht aus der Hand geben.
Das Erste, was ihre geschätzte Schulvorsteherin sagt, ist: „Bitte, befreit
mich aus dem Ding.“
„Warum sollte wir?“, sagt Gertie strenger klingend als sie sich fühlt.
„Sie verstehen es nicht.“
„Vielleicht könnten wir es verstehen. Warum behandeln sie uns so schlecht?“,
schimpft Netta.
Miss Badsteel gibt einen leisen Seufzer von sich. „Ich tu doch nur was getan
werden muss, was ihre Eltern wollen.“
„Komm mir nicht mit solch einen Sch...“
„Bitte, Gertie, sei nicht so ordinär!“
Ein weiterer leiser Seufzer. „Ich versuche nur euch zu helfen. Ich versuche
Mädchen einen guten Start ins Leben zu geben, um das ich betrogen wurde.“
Netta bemerkt dass selbst in diesem Zustand der Verzweiflung Miss Badsteel sich
bemüht würdevoll zu sein. „In Ordnung. Sagen sie uns worüber sie reden wollen
und vielleicht lassen wir sie dann aus das Korsett heraus.“
„Nicht aus dem Strafkorsett!“, fordert Giuliana.
„Nicht aus dem Strafkorsett!“, fordert auch Gertie. „Niemals. Wir brauchen sie
unter unserer Kontrolle. Aber wir werden sie von der Wand losbinden wenn sie uns
alles erklärt hat.“
Wieder seufzt die Frau. „Es ist eine lange Erzählung. Möchten sie nur die
Kurfassung oder wollen sie den ganzen Überblick haben?“
„Die ganze Geschichte. Wir haben viel Zeit.“ Gertie setzt sich langsam hin und
kreuzt ihre Beine unter ihrem weiten Rock. Sie macht das ganz bewusst, denn sie
weiß wie sehr Miss Badsteels Füße in den engen und steilen Stiefeln schmerzen.
Sie genießt sogar ihren Vorteil gegenüber der Frau.
„Also. Ich wurde in einer ziemlich guten Familie geboren. Nicht vergleichbar mit ihren Familien, aber einer respektablen Familie. Mein Vater war Chirurg, was sie nicht wissen können. Er hatte Verbindungen zur gehobenen Gesellschaft und mehr als nur einmal das Leben eines Gentleman oder einer Lady gerettet. Er hatte stets gehofft mich in jene Kreise durch eine Heirat einführen zu können. Aber er konnte es nicht bewerkstelligen. So lehrten mich meine Eltern wie man sich in diesen Kreisen bewegt, tanzt, benimmt. Ich wurde gepflegt, damit ich immer hübsch aussehen würde. Natürlich wurde auch meine Figur ausgebildet. Meine Taille wurde immer enger geschnürt, bis ich den Punkt erreichte, wo mein Vater bedenken bekam ich könnte gesundheitliche Schäden bekommen. Er entfernte sogar meine untersten Rippen. Wissen sie eigentlich wie viele Mädchen das tun? Meine Eltern beliehen sogar ihr Haus, nur um mir prächtige Kleider für einen der Bälle kaufen zu können. Mein Vater fragte all seine begüterten Bekannten und sie gaben ihm positive Antworten. Er hoffte, dass ich, als die Jahreszeit begann, mit Einladungen überhäuft werden würde, und viele auch zu meinem Ball kommen würden. Aber daraus wurde nichts. Wir bekamen keine Einladung, nicht eine einzige. All die exquisiten Kleider, all jene mörderischen Abendkorsetts waren vergebens gekauft und lagen in den Kommoden, bereit für einen Ball der nicht kam. Und natürlich war jede allein stehende Person aus der gehobenen Gesellschaft, die mein Vater für meinen Ball einladen wollte, 'beschäftigt', oder sie antworteten nicht. Als mein Ballabend begann, waren nur meine Eltern und ein paar Freunde aus dem Krankenhaus, sowie verarmter Landadel und ein paar der örtlichen, mittleren Gesellschaft anwesend. Also die niedrigere Gesellschaft.“
Netta sagt leise: „So habe ich das nie gesehen...“
„Wer soll hier seine Geschichte erzählen?“, herrscht Miss Badsteel das Mädchen
an. In ihrer Stimme klingt wieder die alte Kraft. Netta ist sofort still, als ob
eine Bedrohung des Strafkorsetts und des Wiener Trainingsgürtels für sie
bestimmt wäre.
Miss Badsteel fährt fort: „So war das damals. Keine glänzenden Abende und kein
Vergnügen für ein armes Niemand wie Corinna Badsteel. Kein Tanz im Kerzenlicht
in einem wunderbaren Abendkleid im Arm eines schönen jungen Majors. Ich konnte
noch nicht einmal unter Meinesgleichen verheiratet werden, da mein Vater sich
wegen mir hoch verschuldet hatte. Er hatte Tausende von Pfund ausgegeben, nur um
mir die schönsten Ballkleider kaufen zu können. Ich war schöner als all die
anderen Schönen der höheren Gesellschaft. Meine Taille war enger geschnürt als
deren Taillen. Und nach dieser Saison waren all die Kleider wieder aus der Mode
gekommen. Mein Vater hatte kein Geld mehr um mich zu Hause halten zu können. Er
musste sehr sparsam leben und viel arbeiten, damit er nicht Bankrott ging. So
musste ich fortgehen und ich musste mein Auskommen selber verdienen. Und so
wurde ich eine Gouvernante.“
Sie verstummt und schaut einfach geradeaus.
„Ist das die Erzählung?“, fragt Giuliana. „Wo trafen sie Nettas Vater?“
„Ich komme dazu, Mädchen, wenn sie mir Zeit geben! Die Familie, die mich
aufnahm, war eine der gehobenen Gesellschaft, aber mehr so am Rande. Immerhin
war sie aber dennoch hochgestellt, eine bessere Anstellung hätte ich mir nie
erträumen können. Trotzdem war da ein bitterer Beigeschmack, da diese Leute sich
für etwas Besseres als mich hielten und mich nur als ihre Dienerin
betrachteten.“
Sie spricht die letzten Worte so scharf aus, dass die drei Mädchen leicht
zusammenzuckten. Miss Badsteels Stimme klingt fast so kräftig, wie in den
schlimmsten Tagen.
„Es gab drei Kinder in der Familie. Ich sollte auf die Mädchen aufpassen, welche
die jüngeren waren. Ihr Vater war besonders scharf darauf dass sie
Körperhaltung, Tanz und all die anderen Dinge unterrichtet bekamen, die ich für
meinen vergeblichen Eintritt in die höhere Gesellschaft gelernt hatte. So war
meine Erziehung nicht gänzlich sinnlos gewesen. Außerdem war der Vater ein
bedeutender Verehrer von sehr eng geschnürten Taillen. Er wollte die Figuren
seiner Töchter entsprechend ausgebildet haben, und ich glaube dass es der
Anblick meiner Taille war, weswegen ich die Stelle bekam. Denn vorher hatte ich
mich so eng wie möglich schnüren lassen, als ich das Elterliche Haus verließ.
Außerdem trug ich das Kleid, welches genau zu meiner sehr eng geschnürten Taille
passte. Meine Figur war also die schönste, die er je gesehen hatte. Ich glaube
nicht, dass ihr euch vorstellen könnt was das bedeutet. So wurde ich auf der
Stelle eingestellt und musste auf Maud Maria und Louisa Jane aufpassen.“
Plötzlich stöhnt Netta und reißt ihre Augen auf, als ob sie zu eng geschnürt
wurde.
„Netta, Liebes, du wirst doch nicht ohnmächtig werden?“, sagt Gertie besorgt.
„M… ei… meine Familie!”, ruft Netta. „Meine Tanten! Tante Maud und Tante
Louisa!“
Miss Badsteel nickt ihr kaum wahrnehmbar zu, da ihr Würgekragen keine andere
Bewegung erlaubt. „Genau, Netta. Jener Herr, der meine Taille bewunderte, war
ihr Großvater, der Vater ihres Vaters und der zwei Mädchen, welche ihre Tanten
sind. So wurde ich auch zwangsläufig deren älteren Bruder Godfrey vorgestellt.“
Netta ist sprachlos. Sie bewegt ihren Mund, aber kein Ton kommt heraus. Sie
ringt um die richtigen Wörter.
„Davon hat sie uns aber nicht ein Wort erzählt“, sagt Gertie.
„Ich glaube nicht, dass sie es jemals gewusst hat, Gertie“, bemerkt Miss
Badsteel. „Es war etwas, wie ein... Geheimnis.“
„Aber warum?“
„Nun, jetzt kommen wir zu dem wahrlich schändlichen Teil der Erzählung. DAS habe
ich bisher noch niemand erzählt. Normalerweise käme ich noch nicht einmal auf
den Gedanken es euch zu erzählen. Doch ihr habt mich viel zu eng in dieses
brutale Strafkorsett geschnürt, und wenn ihr mich nicht bald heraus lasst, werde
ich hier an der Wand sterben. Ihr Vater, Netta, brachte mir seine Zuneigung
entgegen.“
„Ich kann mir nicht vorstellen warum er das tun sollte“, sagt Netta verbittert.
„Oh, seien sie nicht so zynisch, meine Teure. Dass ich in meinem Leben so streng
geworden bin, liegt auch teilweise daran, wie mich ihr Vater behandelt hatte.
Ich war sehr traurig darüber, dass ich nicht das Leben bekommen durfte, was ich
mir so sehr erhofft hatte. Aber ich war nicht verärgert darüber und hatte auch
nie versucht andere Menschen deswegen leiden zu lassen. Ich war ein hübsches
Mädchen, und natürlich war meine Taille sehr, sehr eng geschnürt. Ihr Vater war
genau wie sein Vater vor ihm. Er konnte keiner zierlichen Taille widerstehen.
Und so hatte sich ihr Vater in mich verliebt, Netta.“
Netta stottert ein paar unzusammenhängende Silben und sackt schließlich mit dem
Oberkörper gegen die Stuhllehne. Ihr Gesicht ist rot angelaufen. Giuliana zieht
ihr Taschentuch aus dem Ärmel und beginnt mit einer unbeschreiblich eleganten
Bewegung ihrer Freundin Luft ins Gesicht zu fächeln. Dabei sagt sie: „Netta,
bist du dir auch sicher dass wir nicht doch dein Korsett lockern sollen?“
Netta schüttelt ihren Kopf und bleibt noch einen Moment, so bequem ihr das
Korsett erlaubt, angelehnt sitzen. Trotzdem sieht man ihr an dass sie
verzweifelt nach den richtigen Worten sucht. Sie wirkt weiterhin erschöpft und
so übernimmt Giuliana die Führung. „Miss Badsteel“, sagt sie, „fahren sie bitte
fort.“
„Tja, was soll ich noch sagen? Sie sind junge Damen aus behüteten Häusern, und
ich will nicht eure Gedanken mit unschönen Erzählungen beschmutzen. Genügt es
ihnen, wenn ich sage dass Nettas Vater mich verführte? Er hat mich nie dazu
gezwungen. Er war zwar stets ein echter Gentleman, aber er war nicht stark genug
der Versuchung zu widerstehen. Er überzeugte mich etwas sehr Böses mit ihm zu
machen.“
„Was?“
„Darüber kann ich unmöglich reden. Allein die Tatsache, dass ich ihnen dass nie
sagen kann, sollte ihnen verdeutlichen was es war.“
„...Oh...!“
„Genau. All unsere Aktionen haben stets ihre Konsequenzen in diesem Leben. Ich
stellte fest, dass ich mich noch strenger, noch enger schnüren musste um die von
mir ersehnte Taillengröße zu erreichen. Sonntags war es ganz besonders schlimm,
denn ich hatte ein Sonntagskleid das ich nur tragen konnte, wenn ich das
passende Sonntagskorsett trug. Der Hausherr bestand darauf dass ich es tragen
sollte, wenn ich sonntags zu ihm kam um den Wochenbericht abzugeben und seine
Anweisungen für die folgende Woche zu empfangen. Es bereitete ihn ein großes
Vergnügen eine derart schmale Taille zu sehen. Da bin ich mir sehr sicher. Dann
kam jener Sonntag. Während ich in mein Sonntagskorsett geschnürt wurde, bekam
ich zwei Ohnmachtsanfälle, was mir bis dahin nie passiert war. Das Korsett
fühlte sich unglaublich eng geschnürt an und ich schaffte es nicht das Korsett
vollkommen schließen zu lassen. Trotzdem schaffte es das Dienstmädchen,
allerdings nur mit großer Mühe, mein Kleid zu schließen. An jenem Tag hatte ich
große Schwierigkeiten die Treppen hinunterzugehen um zum Büro des Hausherrn zu
gelangen. Ich musste immer wieder stehen bleiben. Ich war mir absolut sicher,
dass ich es nicht schaffen würde und auf dem Weg dorthin in Ohnmacht fallen
müsste. Doch irgendwie schaffte ich es doch. Ich klopfte an seine Tür, und er
rief mich herein. Da stand er, hinter seinem Schreibtisch, und schaute mich mit
großer Zufriedenheit an. Ich stand in seinem Büro, viel zu eng geschnürt, und
kaum fähig ausreichend Luft zu bekommen. Meine Beine waren ganz schwach. Ich
wünschte mir nur dass das Gespräch nur schnell vorübergehen würde, damit ich
endlich wieder das Korsett lockern konnte. ‚Guten Morgen, Miss Badsteel’, sagte
er. ‚Guten Morgen, Sir’, sagte ich und machte einen Knicks. Dabei riss mein
Korsett.“
Miss Badsteel erschaudert.
„Das war das einzige Mal in meinem Leben, das mir so etwas passiert ist. Da ich
fast mein ganzes Leben lang eng geschnürte Korsetts trage, weiß ich wovon ich
spreche. Jener Augenblick war der schlimmste Moment in meinem Leben! Die Knöpfe
rissen ab, das Kleid zerriss, und ich war nicht mehr fähig ohne mein Korsett
stehen zu können. Viel schlimmer noch: Er wusste sofort warum dies geschehen
war, da seine Ehefrau natürlich ebenfalls streng geschnürt leben musste. Er
hatte stets darauf bestanden dass sie so eng wie möglich geschnürt wurde, sogar
als sie Schwanger war. Ihre verstorbene Großmutter, Netta, verlor auf diese
Weise drei Babys. Das ist auch der Grund warum es nur ihren Vater und zwei
Schwestern in der Familie gibt. Herr Scruttle- Senior erkannte also sofort den
Grund. Ich versuchte zu lügen, doch er war ein strenger Mann, und ich stand
schwach, mit einem ruinierten Korsett, vor ihm. So fand er heraus dass sein Sohn
der Grund für mein schändliches Auftreten war. Wenn ihr der Meinung seid, dass
ich schlecht zu euch war, wenn ihr mich verärgert habt, dann könnt ihr euch
glücklich schätzen niemals Nettas Großvater erlebt zu haben. Seine Worte waren
so scharf, dass sie einen fast töten konnten. Oh, es war schrecklich, so
schrecklich!“
Sie verstummt, als wenn die Last ihrer eigenen Erzählung zuviel für ihr geworden
ist.
Nach einer Weile sagt Giuliana zögernd und sehr vorsichtig: „Was haben sie
daraufhin getan?“
Das eigene Ehrgefühl scheint die Schulvorsteherin wieder aufzurichten.
„Getan? Ich tat nichts! Ich doch nicht! Ich war doch nur eine Dienerin. Es
gehört sich nicht für eine Dienerin sich vor dem Hausherrn zu rechtfertigen. Ich
musste die ganze Zeit still stehen bleiben, während mir Vorwürfe an den Kopf
geworfen wurden. Sie kennen doch das Gefühl. Genau so führe ich doch diese
Schule. Man konnte mich damals nicht einfach entlassen, weil die Gefahr eines
Skandals bestand. Außerdem hätte es Godfrey erfahren. Er hätte zu mir gehalten,
ja, ihr Vater wollte es. Er wollte mich heiraten und aus mir eine gehobene Frau
machen. Das hatte er mir gesagt. Und so hatte ich es gehofft. Aber davon wollte
Herr Scruttle- Senior nichts wissen. Sein Sohn sollte keine einfache Gouvernante
heiraten, welche den zukünftigen Stammhalter in sich trug. Die Familie beriet
sich. Mich fragte niemand nach meinen Wünschen. Ich musste das annehmen was man
mir gab. Schließlich dachten sie sich eine Lösung des Problems aus. Mir wurden
eintausend Pfund gegeben, fünfhundert sollten für das Kind sein. Außerdem durfte
ich Niemanden darüber erzählen und sollte sofort das Land verlassen. Ich durfte
nur ohne das Kind wieder zurückkehren. Godfrey durfte mich niemals wieder sehen,
und er sollte so bald wie möglich mit dem erstbesten, extrem geschnürten,
Fräulein aus gutem Hause verheiratet werden. Auf Letzteres, einer extrem eng
geschnürten Taille, hatte er bestanden. Seine Worte lauteten: ‚Ich heirate kein
Mädchen mit der Taille eines Pferds.’ Für ihn lag Schönheit in der Taille, und
nachdem er einst seine Hände um meine eng geschnürte Taille gelegt hatte, wollte
er kein Mädchen, um dessen Taille er nur seinen Arm legen konnte. So entdeckten
seine Eltern ein unbekanntes Mädchen einer unbekannten Familie, welches eine
wahrlich schmale Taille hatte. Dass Mädchen war Lady Patricia, ihre Mutter,
Netta. Ich dagegen musste tun was man mir befohlen hatte. Ich nahm ein Schiff
nach A... in ein anderes Land und brachte dort mein Baby zur Welt. Als es kaum
ein Jahr alt war, gab ich es einer wohlhabenden Familie, die mein Vater kannte.
Sie hatten keine Kinder, da die Ehefrau unfruchtbar war. Sie versprachen mir
mein kleines Mädchen zu lieben, als ob es ihr eigenes Kind sei. Ich brauchte
ihnen kein Geld zu geben und konnte somit alles, was mir gegeben wurde,
behalten. Dann kehrte ich nach England zurück und hatte das Kapital diese Schule
zu gründen.“
„Sie haben eine Tochter...“, sagt Giuliana verwundert. „Sie müsste etwas
älter als ich sein, nicht wahr? Älter als Netta... vielleicht im gleichen Alter
wie Gertie. Was wurde aus ihr?“
„Das kann ich nicht sagen“, sagt Miss Badsteel und presst ihre Lippen zusammen.
Gertie überlegt. Nach einer Weile sagt sie: „Das macht Vieles klarer. Aber da
ist noch etwas, was ich nicht verstehe. Warum haben sie immer die Mädchen so
schlecht behandelt? Sie unterrichten uns so hart. Sie sagen uns immer dass es
nur für unsere Bestes sei. Sie sorgen sich stets um unsere Zukunft... Wenn sie
doch wissen wie hart das Leben sein kann, wieso verwandeln sie unser Leben zu
solch einem Elend?“
Miss Badsteel schaut sie erstaunt an. „Ich habe euer Leben nicht schwer gemacht,
oder doch?“
„Ja, das taten sie!“, rufen alle drei Mädchen einstimmig.
Miss Badsteel blinzelt mit den Augen. Dann sagt sie: „Ich will es anders
ausdrücken... Ich denke dass ich euch deswegen so hart fordere, weil ich in euch
meine alten Träume erfüllen möchte. Was ich selber nicht erreicht habe, versuche
ich durch euch zu schaffen. Ihr sollt den Weg in die gehobene Gesellschaft
finden und dort anerkannt werden. Wenn ich das geschafft habe, weiß ich dass
meine Ausbildung richtig ist und ich kann stolz darauf sein. Ich will es der
höheren Gesellschaft zeigen, dass ich in gewisser Weise dazu gehöre. Versteht
ihr das?“
„Ja“, sagt Giuliana, „aber warum müssen sie dennoch so schlecht zu uns sein?
Wenn sie stolz auf uns sind, sollten sie liebenswürdig uns gegenüber sein. Sie
sollten uns lieben. Sie benehmen sich aber, als ob sie uns hassen würden. Warum
nur hassen sie uns so?“
„Ich hasse sie nicht, Liebes...“
„Ja, das tun sie!“, ruft Gertie dazwischen.
Miss Badsteel scheint es die Stimme verschlagen zu haben.
Dann fährt Gertie fort: „Ich kann es dir erklären, Giuli. Sie beneidet uns.
Das ist das Problem. Sie beneidet die Mädchen, die alles tun können, von dem sie
nur geträumt hat. Und genau deshalb misshandelt sie uns Tag für Tag. Denn eines
Tages sind wir ihre Vorgesetzten. Und genau davor fürchtet sie sich und schnürt
uns deswegen so hart wie möglich in unsere Korsetts. Ich nehme auch an, dass sie
es genießt wie die höhere Gesellschaft sie darum bittet ihre Töchter von ihr
erziehen zu lassen. Das gibt ihr ein gewisses Gefühl der Macht über jene
Gesellschaft, die sie abgelehnt hat.“
„Ich... Das ist eine unverschämte Beleidigung!“, platzt es aus Miss Badsteel
heraus.
„Meinen sie nicht, dass es doch zutreffend ist?“, fragt Netta mit einem böse
funkelnden Blick. „Warum nicht?“
„Es... es ist nicht... Ihr würdet es nicht verstehen... Es hat nichts mit mir zu
tun!“
„Ich verstehe. Es ist was Anderes, nicht wahr? Sie wird es uns nicht sagen,
Gertie. Aber du hast Recht. Das passt zu ihr... wie ein Strafkorsett! Wir können
sie jetzt befreien. Wir müssen uns noch was für den Abschlussball einfallen
lassen.“