Kapitelübersicht:
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Die Kutsche hielt vor dem Tor von Tante Pollys Anwesen an, und der Kutscher
wartete darauf dass der Pförtner es öffnen würde. Als der Kutscher mit einem
leichten Peitschenschlag die Pferde wieder antrieb, sagte Marjorie: „Patricia,
dein Leben wird sich ab jetzt sehr stark verändern.“
Lady Patricia Quise schaute aus dem Wagenfenster hinaus. Die Kiesauffahrt war
schnurgerade, über 10 Meter breit und 400 Meter lang. Schließlich sah sie ein
sehr schönes Haus, dessen Seitenflügel hinter Bäumen verschwanden.
„Ich verstehe“, sagte sie. „Unser altes Haus ist nicht größer als eines der
Seitenflügel.“
„Ich hatte es anders gemeint“, sagte das schon etwas ältere Kindermädchen. „Die
Familie deiner armen Mutter war, wie soll ich sagen, ein bisschen eigenartig.
Deine Mutter war ein Rebell, und deswegen wurde sie verstoßen. Du hast niemals
ihre Großeltern gesehen. Deine Mutter hatte beschlossen dich so zu erziehen wie
sie es selber für Richtig hielt. Aus diesem Grunde bist du von allem fern
gehalten worden und du weißt nicht was eine normale Erziehung ist. Die jüngere
Schwester deiner Mutter blieb zu Hause, um sich um ihre Eltern zu kümmern. Und
jetzt, da deine Großeltern gestorben sind, lebt deine Tante mit einer
Hundertschaft von Dienern ganz allein in dem riesigen Haus. Sie herrscht mit
eiserner Hand, und sie lebt sehr zurück gezogen. Sie war immer sehr konservativ
und streng, und ich rate dir dich nicht mit ihr anzulegen.“
Die Kutsche fuhr einen Halbkreis und hielt vor dem großen Eingang. Eine
Delegation von Dienern, alle ordentlich gekleidet in schwarzweißen Uniformen,
wartete auf dem Kiesweg. Ein Diener trat vor, um die Wagentür zu öffnen und die
Stufe herunter zu klappen. Als er das hübsche junge Mädchen in der Kutsche sah,
lächelte er kurz. Als er aber den Blick von Marjorie sah, wurde sein
Gesichtsausdruck sofort wieder ausdruckslos.
Marjorie stieg zuerst aus. Dann bot sie Patricia ihre Hand an und half ihr aus
der Kutsche auszusteigen.
Patricia schaute leicht verwirrt aus. Da sie nun ganz nah vor dem Haus stand,
sah alles sehr bedrohlich aus. Das Haus musste vier oder fünf Etagen haben,
einschließlich des Parterres. Zu den Seiten dehnte es sich enorm aus. Eine
Dienerschaft war ihr nicht unbekannt. Sie kannte es von dem viel bescheideneren
Haus in London. So fragte sie sich wieso so viele Diener nur für eine einzige
Frau beschäftigt waren. Sie folgte der großartigen geschwungenen Treppe, welche
von dem Vorplatz zum Eingang führte. Dabei schritt sie an den schweigend
dastehenden Zofen vorbei. Bis sie unter dem von Säulen getragenen überdachten
Eingangsbereich eine Frau sah. Sofort wurde Patricia klar, wer die Frau sein
musste. Die Herrin über jenem Anwesen stand hinter der Balustrade, sodass ihr
Körper nicht zu sehen warf. Patricia sah nur ein schönes, strenges Gesicht. Das
braune Haar war zu einer kompliziert aussehenden Frisur hochgesteckt. Der Hals
schien sehr lang zu sein. Er war von einem schwarzen Samtkragen verdeckt und
verziert mit einer großen Brosche. Diese Frau, da war sich Patricia sicher,
musste Tante Polly sein. Patricia winkte ihr fröhlich zu, aber der Kopf blieb
unbeweglich. Patricia ließ ihre Hand wieder sinken und folgte mit Marjorie dem
Diener die Treppe hinauf zur Terrasse.
Die Frau war schlank und ziemlich groß. Dennoch hatte sie große Brüste. Ihre
Taille dagegen war sehr schmal. Es schien, als wenn sie vom Hals bis zu den
Handgelenken und auch bis zu den Fußknöcheln in einem schlichten schwarzen Kleid
eingezwängt wäre. Das Kleid war vorne über die ganze Länge geknöpft. Das Kleid
lag überall so eng an, dass sich Patricia fragte wie die Tante dorthin gelangen
konnte. Sie stand kerzengerade, so steif wie ein Fahnenmast. Sie schaute die
ganze Zeit einfach nur geradeaus, als wenn sie keine Notiz von ihren Besuchern
nehmen würde, auf die sie ja offensichtlich wartete. Erst als der Diener sagte
„Miss de la Coudière, Lady Patricia Quise und ihre Zofe“, drehte sie sich auf
der Stelle etwas herum und schaute in Patricias Gesicht.
Sie schaute lange Zeit auf das junge Mädchen ohne ein Wort zu sagen. Schließlich
wagte Patricia die unerträgliche Stille zu brechen und sagte: „Tante Polly, ich
bin ihre Nichte Patricia, die Tochter ihrer älteren Schwester. Ich bin hoch
erfreut sie kennen lernen zu dürfen.“ Sie machte einen Knicks. Das gelang ihr
aber nicht sehr gut, weil sie niemals in solchen Dingen unterrichtet worden war.
Dennoch fühlte sie, dass sie dies gegenüber der streng wirkenden Tante tun
müsste. Falls sie ein herzliches Willkommen erwartet hatte, wurde sie
enttäuscht.
„Ich hoffe, dass du eine angenehme Fahrt hattest, Kind“, sagte Tante Polly mit
einem fast nicht wahrnehmbaren Lächeln. Bevor Patricia den Mund öffnen konnte um
etwas zu sagen, fügte die Tante hinzu: „Ich bin sicher, dass du begreifst, dass
in meinem Leben kein Platz für ein junges Mädchen ist, und dass du hier nicht
lange wohnen wirst. Tatsache ist aber, dass es meine Pflicht ist auf die Tochter
meiner dummen Schwester, Gott hab sie selig, aufpassen muss bis du verheiratet
bist. Ich hoffe dass ich das so bald wie möglich arrangieren kann.“
Patricia war bestürzt über jene Worte und fühlte sich wie in einem schlechten
Traum. Tante Polly schaute sie hart und fast durchdringend an. Sie erwartete
offensichtlich eine Antwort. „Vie... vielen Dank“, stammelte Patricia.
„Dein Vater hat dein Mutter verlassen weil sie eine Tochter bekam obwohl er
einen Sohn von ihr wollte“, fuhr Tante Polly fort. „Er war ein Narr da er sie
voreilig geheiratet hatte.“
Patricias Wangen glühten und sie schaute nach unten. Sie wünschte sich dass sich
der Boden unter ihr auftun würde um sie zu verschlingen.
„Beuge dich nicht nach unten, Mädchen!“, schimpfte Tante Polly. „Steh gefälligst
gerade!“
Patricia tat wie ihr geheißen wurde und die Tante sprach: „Ich habe gehört, dass
deine Erziehung in einer Richtung verlaufen ist, welche dir sehr viel Freiheiten
ermöglichte. Als Resultat bist du keine junge Dame, sondern eine Schande für die
Gesellschaft. Kein geachteter Mann würde sich in diesem Augenblick für dich
interessieren. Es ist meine Familienpflicht dich fest an die Hand zu nehmen und
dich so zu erziehen dass aus dir eine präsentable junge Dame wird, und nicht
etwas, vor dem jeder anständiger junger Herr schreiend davonlaufen würde. Wir
werden dich lehren wie man spricht, wie man geht, wie man steht, wie man sitzt,
wie man sich in unserer Gesellschaft benimmt. Wir werden dich richtig frisieren
und kleiden. Was um Himmels Willen trägst du da überhaupt?“
Patricia schaute auf ihr braunes Wollkleid. „Das trage ich normalerweise immer.
Ich habe noch mehr davon.“
„Das ist nicht akzeptabel. Ich werde sobald wie möglich richtige Kleidungsstücke
für dich anfertigen lassen. Dann werden das und all die anderen ähnlichen Sachen
verbrannt werden. Und bezüglich deiner Figur!... Sage mir, Patricia, hast du
jemals ein Korsett getragen?“
Patricia überlegte. „Ja, Tante Polly, einmal. Als ich dreizehn war versuchte
Mama mich in eines hineinzustecken, aber ich empfand es als unbequem. Und so
sagte sie, dass ich es nicht wieder tragen muss.“
Tante Pollys Nasenflügel bebten und ihre Lippen wurden noch schmaler. „Wie
schändlich! Wo wären wir heute, wenn sich jedes Mädchen weigern dürfte ein
Korsett zu tragen nur weil es unbequem ist!? Schau mich an! Meinst du dass ich
es als bequem empfinde?“
Patricia schaute hoch. Natürlich wusste sie was für ein Korsett ihre Tante trug,
denn ihre Mutter hatte gelegentlich auch eines getragen. Allerdings tat sie es
nur zu besonderen Anlässen wie Beerdigungen oder Hochzeiten. Und selbst dann
trug sie es nur so lange wie es nötig war, da es ihr große Beschwerden machte.
Das Personal in ihrem alten Haus hatte sich aber nicht getraut ebenso
unkonventionell zu sein. Selbst ihr Kindermädchen Marjorie trug immer ein
Korsett, außer im Bett oder wenn sie sich wusch. Aber niemand schnürte seine
Taille enger als nötig. Patricia wusste, dass es Frauen gab, die Himmel und
Hölle in Bewegung setzten um die kleinste mögliche Taille zu bekommen. Sie war
aber nie einer solchen Frau begegnet, da ihre Mutter sich nach der Scheidung
nicht mehr in solchen Kreisen aufhielt. Nun war der Moment gekommen, wo sie eine
wahrlich eng geschnürte Taille direkt vor Augen hatte. Tante Pollys Taille war
unglaublich stark geschnürt, der übernatürlich wirkende Busen schien nicht echt
zu sein, und dann diese Unbeweglichkeit. Etwas musste ihre Tante davon abhalten
sich beugen zu können. Patricia überlegte. Dann entdeckte sie dass sich
Korsettstäbe andeutungsweise auf dem eng anliegenden Kleid abzeichneten.
Außerdem hörte Patricia bei jedem Atemzug ihrer Tante ein leises knarrendes
Geräusch. Gleichzeitig hoben und senkten sich die großen Brüste. Es sah äußerst
unbequem aus. Genau das hatte sie vermeiden wollen, als sie sich weigerte
geschnürt zu werden. Aber das konnte sie nicht ihrer Tante sagen. So antwortete
sie: „Ich weiß es wirklich nicht, Tante Polly.“
„Natürlich ist es nicht bequem“, sagte Tante Polly geringschätzig. „Aber das ist
nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass es die Pflicht einer Dame unserer
Gesellschaftsschicht ist, alles zu tun um den Ansprüchen einer heiratswilligen
jungen Dame gerecht zu werden. Das bedeutet sich so eng wie möglich zu schnüren,
um eine schöne Figur zu bekommen. Wenn eine junge Dame zum richtigen Zeitpunkt
damit beginnt, und sich Mühe gibt, oder ihre Familie darauf achtet, kann sie
herrliche Ergebnisse erreichen. Bei dir sind schon fünf Jahre sinnlos vergeudet
worden um eine wirklich gute Figur zu erreichen. Aber ich habe schon ein
Trainingsprogramm für dich ausgearbeitet, und ich denke dass du schon im
nächsten Jahr eine wirklich annehmbare Figur haben wirst. Wir werden morgen mit
einem Besuch von meinem Korsetthersteller beginnen.“
Patricia war verwirrt und brachte kein Wort heraus. Als sie ihre Fassung wieder
gewonnen hatte, sagte sie: „Aber, Tante Polly... Bitte verzeihen sie mir, aber
ich will kein Korsett tragen, und ich will auf gar keinem Fall eine derart
schmale Taille haben!“
Tante Polly drehte sich um und ging mit kleinen, aber schnellen Schritten ins
Haus. Bei jedem ihrer Schritte musste sie gegen den festen Stoff ihres engen
Rocks ankämpfen. Ohne sich umzudrehen sagte sie: „Was du willst oder nicht,
zählt nicht, Kind. Ich bin dein Vormund, und bis du einundzwanzig bist, musst du
meinen Anweisungen folgen.“
Ein Diener öffnete die große Eingangstür und Tante Polly verschwand in der
großen Halle.
Patricia schaute Marjorie an, welche in respektvoller Entfernung das Gespräch
mitgehört hatte. Ihr altes Kindermädchen zuckte nur mit den Schultern und sagte:
„Ich habe dir gesagt dass hier alles anders ist.“
„Marjorie, was soll ich nur tun?“
Marjorie legte eine Hand auf Patricias Schulter. „Es gibt nur eine Möglichkeit“,
antwortete sie. „Du musst ihr gehorchen. Sie hat jetzt laut Gesetz die
Verantwortung über dich, und du kannst nichts dagegen unternehmen, denn niemand
wird dir helfen können.“
Da erklang die Stimme von Tante Polly: „Patricia! Komm herein. Du wirst dich
nicht mit der Dienerschaft unterhalten!“
„Ich komme, Tante Polly!“ Als sie loslaufen wollte sagte Marjorie: „Mache dir
keine all zu großen Sorgen, Kleines. Du hast doch gehört was sie gesagt hat. Sie
will dich so schnell wie möglich verheiraten. Nur ein Jahr oder vielleicht zwei,
und dann lebst du bei jemanden, der nicht ihre Regeln und Vorschriften
durchführt.“
„Ich hoffe“, sagte Patricia und lief ins Haus. „Ich hoffe es“, wiederholte sie.
Tante Polly hielt ihr Wort und begann sofort mit der Erziehung. Patricia
wurde eine kleine und einfache Mahlzeit serviert. Nachdem Patricia gegessen
hatte, stand ihre Tante auf. Während sie gesessen hatte sah sie nicht sehr
glücklich aus. Sie sagte: „Wir müssen jetzt beginnen. Steh auf.“
Patricia erhob sich.
„Nein, nein, nein!“, sagte ihre Tante sichtlich ungehalten. „Setze dich wieder
hin.“
Patricia setzte sich.
„Wirklich abscheulich!“, rief Tante Polly. „Du bist eine Schande für das Haus.
Beuge dich nicht nach vorne wenn du aufstehst oder dich hinsetzt. Halte deinen
Rücken gerade, den Kopf aufrecht und die Schultern nach hinten. Und bewege dich
langsam. Versuche es noch einmal.“
Patricia gab sich Mühe.
„Das ist schon etwas besser“, gab ihre Tante widerwillig zu. „Aber noch lange
nicht gut genug. Setze dich nicht wieder hin. Wir müssen jetzt überprüfen wie du
läufst.“
Patricia ging schnell in dem Raum hin und her.
Tante Polly stöhnte. Das war der menschlichste Klang den Patricia jemals von
ihrer Tante hörte. „Du besitzt die Frechheit dich Lady Patricia zu nennen! Ich
habe noch nie etwas weniger damenhaftes in meinem Leben gesehen als dich! Selbst
die Verkäuferinnen haben eine bessere Haltung als du! Hat man dir denn nichts
beigebracht?“
„Braucht man denn Unterricht um Laufen zu lernen? Ich habe es doch gelernt... So
wie alle Kinder.“
„Kleine Kinder wissen nicht wie man richtig geht. Sie laufen genauso wie du.
Gentlemen gehen mit Würde, und Ladies mit Eleganz. Stell dich gerade hin, Kopf
hoch, Bauch rein, Brust raus. Und jetzt geh langsam, ein Fuß vor dem anderen,
bewege deine Hüften. Du musst kleinere Schritte machen!“
Patricia versuchte sich verzweifelt an all die Anweisungen zu erinnern und zu
befolgen, aber sie hatte keinen Erfolg. Ihr Gang sah ziemlich seltsam aus, und
beinahe wäre sie gestolpert.
„Du bist wirklich hoffnungslos“, sagte ihre Tante und zog an dem Glockenzug,
damit eine Zofe kommen sollte. „Eine neue Garderobe wird dir helfen. Ein gutes
langes Korsett, ein hautenger Rock und Schuhe mit hohen Absätzen können Wunder
vollbringen. In der Zwischenzeit halte dich von meinem Anblick fern. Ich kann
jetzt nichts für dich tun. Vor jeder Mahlzeit wirst du mit einem Buch auf dem
Kopf eine Runde im Zimmer machen. Es darf weder herunterfallen, noch darfst du
es mit deinen Fingern berühren. Du bekommst erst was zu essen, wenn du das
geschafft hast. Harringale!“ Sie drehte sich zu der devot dreinschauenden Zofe,
welche gerade hereingekommen war und einen Knicks machte. „Führe Lady Patricia
zu der kleinen Suite im Westflügel und bringe sie zu Bett. Morgen früh, um
viertel nach sieben, will ich sie wieder bei mir haben.“